Pinocchio
Es ist nicht die wachsende Nase, die die Metapher für das Lügen abgibt, die metonymisch für ihn stehen kann. Dazu hat man ihn gemacht, weiß der Teufel warum. Man muß wohl ein Interesse daran gehabt haben. Vielleicht ist die Geschichte auch für die meisten Leute zu verzinkt, und man nimmt ja immer das, was am leichtesten zu denken ist. Sich an die lange Nase zu klammern, ist gut für die Blöden. Das eigentliche Thema ist aber der Schwererziehbare oder die Unerziehbarkeit als Provokation der Therapie-Norm und des Optimierungswahns. Pinocchio könnte Modell stehen für die Schreibwerkstatt im Irrenhaus. Die Geschichte entstand zur selben Zeit, da die Psychiatrie begann, mit verräterischer Besessenheit ihre Nase in die Kinderstube und überhaupt die Kindheit zu stecken. Nicht weil sie neben anderen Bereichen auch diesen kolonisieren wollte, sondern weil hier das Instrument zu ihrer Universalisierung als neue Normalisierungs- und Strafmacht vorlag. Es ging der Psychiatrie dabei auch weniger um die Kindheit des Kindes, als vielmehr um die Blockierung, die Stillstellung der Entwicklung, die Zurückgebliebenheit des Erwachsenen, seine Fixierung auf Stufen der Kindheit. Diese Kindhaftigkeit wurde die bevorzugte Gestalt des psychiatrisierten Individuums, personifiziert in dem sich gegen jede Art von Disziplinierung auflehnenden Delinquenten. Damit eine Verhaltensweise in das Gebiet der Psychiatrie fällt, genügt es fortan, daß sie irgendeine Spur von Infantilität mit sich trägt.
„Weit entfernt davon, die Kindheit als ein neues annektiertes Gebiet zu betrachten, sollte man erkennen, daß der Psychiatrie erst dadurch, daß sie in der Kindheit die Zielscheibe ihres Tuns erkoren hat, die historische Bedingung für die Verallgemeinerung des psychiatrischen Wissens zu sein scheint. 399
Als Gutachter im Strafprozeß sucht der Psychiater fortan in der Vorgeschichte der Tat nach Anzeichen kindlicher Boshaftigkeit. Die Kindheit begann, eine Scharnierfunktion für die neue Psychiatrie zu übernehmen, und wurde zum Hauptinstrument der Psychiatrisierung. Diesen Vorgang konnte Collodi in seiner Umgebung beobachten. Lombroso untersuchte in der ersten Hälfte des 19. Jh in Italien politische Bewegungen im Umkreis von Mazzini und Garibaldi, die dabei waren, in Richtung Sozialismus und Anarchismus abzudriften. Die psychiatrische Wissenschaft sollte mit Hilfe seiner Psysiognomie instand gesetzt werden, in einer politischen Bewegung denjenigen zu erkennen, den man effektiv für tauglich erklären kann, und ihn von demjenigen zu unterscheiden, den man für untauglich und gefährlich erklären muß. Er wollte ein Instrumentarium entwickeln, um die wahre Revolution von Aufruhr und Rebellion zu unterscheiden 201. Demselben Ziel dient die Aufspürung kindlicher Monstrosität im Verhalten. Die Begründung der modernen Psychiatrie nach dem Modell der politischen Diskriminierung hat die Aufgabe zu verhindern, daß Delinquenten straffrei ausgehen, wenn sie an einem psychischen Defekt leiden, wo sie doch kriminelle Neigungen besitzen. Damit brechen eine Menge von Verhaltensweisen in die Psychiatrie ein, die bis dahin einen moralischen, diziplinarischen oder rechtlichen Status hatten. „Alles was nach Unordnung, Undiszipliniertheit, Rastlosigkeit, Unbelehrbarkeit, Widerspenstigkeit, Mangel an Anteilnahme usw. aussieht, wird nunmehr bei Bedarf psychiatrisiert.“ 212 Die Strafbarkeit ist erheblich ausgedehnt worden, da man nicht mehr das Verbrechen sondern den Verbrecher bestraft.
An den Begründungen psychiatrischer Gutachten läßt sich ablesen, daß die Psychiatrie sich in einer radikal unbequenen Position befindet, da sie es mit einer irrationalen Tat zu tun zu hat, die von einem vernunftbegabten Subjekt begangen wurde, mit einer Tat, die analytisch nicht einsichtig werden kann, und einem Subjekt, dem man keinen Zustand der Demenz nachweisen kann. Ein technischer Trick besteht in der Umkehr der Nachweispflicht. Während man bis dahin bei Anzeichen von Demenz nicht strafen konnte, ist man seitdem strafbar, wenn man umgekehrt den Zustand der Unzurechnungsfähigkeit nicht nachweisen kann. 153 Um diesen eklatanten Widerspruch zu verdauen, muß zusätzlich die Theorie einen Effekt stillschweigender Durchlässigkeit aufweisen. Sie muß sich selbst verraten.
Man erkennt, daß Psychiatrie nicht das Ziel hat, den Abweichenden oder Leidenden zu verstehen, sondern in erster Linie als besonderer Bereich des Schutzes der Gesellschaft vor den Gefahren fungiert, die ihr von Seiten der Krankheiten widerfahren können. Sie fungiert als Vorsichts- und Hygienemaßnahme des Gesellschaftskörpers. 155 Dazu mußte sie Verfahren entwickeln, um eine soziale Gefahr als Krankheit zu kodieren, und um den spezifisch gefährlichen Charakter des Verrückten darzutun. 157 Wahnsinn ist nun nicht mehr als etwas, in dessen kern ein Delirium sitzt, sondern dessen Kern die Nichtreduzierbarkeit, der Widerstand, der Ungehorsam, die Aufsässigkeit, der Machtmißbrauch ist. Der Verrückte ist fortan jemand, der sich für einen König hält, der seine egoistische Macht gegen jede etablierte Macht zur Geltung bringen will. 157f. Und die Psychiatrie sieht sich in der Lage, die schockierenden, nicht-nachvollziehbaren, grundlosen Verbrechen bei ganz normal wirkenden Menschen vorherzusagen. Sie versuchte sich, für diese plötzlich in die gesellschaftliche Normalität einbrechende und durch keinerlei Verstehbarkeit aufzuklärende Gefahr zuständig zu machen und so ihre Rechte als Fürsorgemacht innerhalb der Gesellschaft zur Geltung zu bringen. Wie die Prinzessin auf der Erbse vermag sie die unscheinbaren Vorzeichen zu spüren.
Dienstag, 12. April 2011