Alphabet verbotener Gedanken
Alphabet verbotener Gedanken
Vorbemerkung
In der Öffentlichkeit, wo immer sie stattfindet, auf der Straße, in den Medien, in den Facebooks, im Parlament, in der Paulskirche, tut sich, so sollte man meinen, die Meinung kund, die sich in den Prozessen der Meinungsbildung herausgebildet hat. Die Verfechter der bürgerlichen Öffentlichkeit gingen davon aus, daß sich in diesen Prozessen die beste Ansicht durchsetzt. Wenn dies je der Fall war, hat sich das mittlerweile geändert. Aus Diskursen widerstreitender Argumente und der Erörterung alternativer Gesellschaftsmodelle und Lebensformen ist die Verwaltung des politisch Korrekten und der ängstliche Abgleich von Lebensstilen geworden. Selbst die Rolle des advocatus diaboli bleibt unbesetzt. Steile Thesen gelten als pubertär oder verstiegen. Bei dem Redeschwall der Medien handelt es sich statt um die Moderierung offener Debatten um die Verwaltung und die Exekution von Ideologien und Denkverboten. Niemand möchte auf der falschen Seite erwischt werden. Nach jedem Schritt sieht man sich um, ob die anderen noch da sind.
Die Art und Weise, wie sich heute öffentliche Meinung herausbildet, ist die einer Normalisierungsbewegung. Sie gleicht der Art, wie am Markt kollektive Entscheidungen getroffen werden, am besten beobachtbar am gleichförmigen Handeln der Mitspieler an den Finanzmärkten, das, um es beschreiben, Keynes einst mit der Choreographie von Schönheitswettbewerben verglich. Bei ihnen werden die Prämien danach ausgewählt, wie man am besten mit der durchschnittlichen Vorliebe der Beteiligten übereinstimmt. Die Wahl im Schönheitswettbewerb kommt nicht so zustande, daß Teilnehmer das Gesicht auswählen, das sie am hübschesten finden, sondern so, daß jeder Teilnehmer bemüht ist, jenes auszuwählen, von dem er denkt, daß es am ehesten das Gefallen der meisten Teilnehmer gewinnen wird. Die marktgängige Meinung bildet sich danach, was nach durchschnittlicher Meinung die Durchschnittsmeinung sein könnte. Auf dem Markt der Meinungen zeigt sich ein offensichtlicher Drang zum Konventionellen. Der Markt fungiert als Maschine zur Erzeugung normalisierender Trends. Das wußten bereits die Begründer der Massenpsychologie Gabriel Tarde und Gustace le Bon. Der Markt richtet sich danach, was vielleicht möglicherweise eintreten wird, er ist ein System von Antizipation, welchs das ökonomische Verhalten auf das Erraten dessen verpflichtet, was der Markt selbst von der Zukunft denken mag. Das gilt für den Markt, auf dem Preise gebildet werden, ebenso wie für den, auf dem Meinungen gehandelt werden. „Der Markt ist ein Ableiter, der Uniformität verhängt“, sagt Hyun Song Shin, wie Vogl zitiert.
Dieser Joseph Vogl findet in seinem Buch „Das Gespenst des Kapitals“ zur Veranschaulichung des Phänomens neben dem Schönheitswettbewerb auch das Bild der Brücke, die unter den Tritten der sie überquerender Menschenmenge gefährlich ins Schwingen geraten kann, auch wenn die Menschen nicht vorsätzlich im Gleichschritt gehen. Obwohl es bei massenhaften unkoordinierten Einzelbewegungen höchst unwahrscheinlich ist, daß daraus eine einheitliche Bewegungsrichtung erwächst, kann doch die Oszillation der Brücke die einzelnen Füße zur Anpassung und zur Anpassung an Anpassungen bringen. Unmerklich werden die Bewegungen synchronisiert und verstärkt, so daß man sich dem Effekt als Einzelner nicht mehr entziehen kann. Die doppelten Anpassungsreaktionen können über Rückkopplungseffekte zu einem verheerenden Sturm anwachsen.
Der Wissenschaftsbetrieb und die Universitäten, einst als Gegenpol zu bloßen Meinungen und verkrusteten normativen Setzungen gefeiert, sind inzwischen auf diesen Kurs eingeschwenkt. Durch die Verschulung und Modulisierung des Lehrbetriebs und die Abschaffung der Geisteswissenschaften, die umfassende Ökonomisierung des Wissens, die Ersetzung individueller Lerninhalte durch die zeitsparende Kompatibilität von Lernresultaten wird das Denken auf das Verkaufbare und maschinell Evaluierbare eingeschränkt und eingeschworen. Selbst in den finstersten Zeiten des Mittelalters, unter dem Zugriff der Inquisition, hat es nicht einen derartigen Grad von Selbstzensur und Verdummung gegeben wie heute.
Statt der sozialen Strukturen nehmen wir das Bild wahr, das wir uns von der Gesellschaft machen. An die Stelle der rohen Realität haben sich idealisierende Halluzinationen gesetzt. Als Grundregel gilt, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. Wir leben getreu der Parole von Pangloß in der besten aller möglichen Welten. Regiert wird diese vom einem umfassenden Gutmenschentum. Die hysterische Empörung der selbstgerechten Gutmenschen über jede Form der Kritik übertönt jeden Ansatz einer Thematisierung problematischer Bereiche und Entwicklungen. Um die Störenfriede wird sogleich ein Bannkreis gezogen, mit Hilfe von Bann-Wörtern wie Populismus, Neiddebatte, Nestbeschmutzer, Kommunisten, Lamentierer. Denen, die Probleme benennen, werden jene Bannwörter wie Kreuze den Vampiren entgegengereckt. Man wird ermahnt, nicht die Politikverdrossenheit zu nähren, nicht das Vertrauen in die Institutionen zu untergraben, die Krise nicht herbeizureden. Die reale Wirklichkeit wird zum einen gegen eine Fiktion politischer Korrektheit vertauscht, zum anderen werden Personen und ihre Umwelt in Daten zerlegt, die unter dem Aspekt der Erwartbarkeit, Renditefähigkeit und Profitabilität erhoben werden, und wieder zu neuen monströsen Ganzheiten zusammengeschustert. Niemand kommt mehr in die Hölle, Es gibt nur noch den Himmel. Die Begriffe stimmen nicht mehr. Sie dienen nur noch als Filter dafür, was „passieren“ darf.
Die Inhalte der medial gesteuerten Meinungsäußerungen implizieren aber als Montage, die noch die Spuren der Machenschaften der Normalitätspolizei an sich trägt, auch das Gegenteil dessen, was sie vertreten. Sie unterlaufen sich selbst, indem sich die einzelnen Artikel und Rubriken wechselseitig widersprechen und kommentieren. In der Zeitung, wo man alle Beiträge nebeneinander präsent hat, muß man nur - wie einst Karl Krauss und Johann Nestroy - miteinander in direkte Beziehung setzen, was auf unterschiedlichen Seiten oder sogar auf derselben Seite in separaten Artikeln steht, nach dem Prinzip Boni gegen Emely. Das von Denkverboten normierte Leben ist zugleich sein eigener Karneval. In allen Gemeinplätzen, so sehr ihre Aussagen auch breitgetreten sein mögen, ist ihr Gegenteil verborgen. Wenn man das Kaleidoskop nur einige Grad weiterdreht, erweist sich das vermeintlich Eingängige als Labyrinth. Und schon kommt man auf „dumme Gedanken“, die heutzutage das einzige sind, was nicht dumm ist.
In Analogie zu Schleiermachers Adressierung seines Plädoyers für ein die Transzendenz nicht ignorierendes Religionsverständnis „an die Gebildeten unter den Verächtern der Religion“ könnte man dieses Alphabet an die Gebildeten unter den Verächtern des Abwegigen adressieren. In Zeiten von Google und Wikipedia glauben viele Studenten an einfache Wahrheiten. Gültig ist in zunehmendem Maße, was leicht zu denken ist. In dem Motto einer gutbezahlten Manager-Beraterin „Sei einfach“ kommt die Misere emblemhaft zum Ausdruck. Voraussetzungsvollere Argumentationen und Beweisführungen haben weder in den Bildungsinstitutionen, noch in den Medien eine Chance, gehört zu werden, so wenig wie übrigens vor Gericht, wo man schnell unterbrochen und ermahnt wird, zur Sache zu kommen, sobald man „Anscheinsbeweise“ in Zweifel zieht. Dieses Alphabet ist das diametrale Gegenteil des Copy-paste-Verfahrens. Wenn man sich jenes Verfahren als Schlucken einer eingängigen Pille vorstellen kann, dann gleicht mein Alphabet eher einer wohltuenden aber langwierigen Reflexzonenmassage, bei der die neuralgischen Punkte des erlaubten Denkens so berührt werden, daß sich allmählich der ganze Körper entspannt.
Mittwoch, 29. Dezember 2010
Die folgenden Gedankenexperimente haben keinen Anspruch an Vollständigkeit, sondern verstehen sich als Einladung zum Mittrainieren, sie dienen zum Warmlaufen.
Bei verbotenen Gedanken handelt es sich nicht um bloße Spitzfindigkeiten oder luxurierende Haarspaltereien, sondern mit ihnen verletzt man Tabus und provoziert man lebensgefährliche Aggressionen. Diese Übungen sind Erschütterungsexperimente, bei denen es einem wie Eulenspiegel ergehen kann, der nach jedem seiner „lustigen Streiche“ schleunigst das Weite suchen mußte.
Wenn gesagt wurde, daß sich das, was bei einer Psychoanalyse zur Sprache kommt, als Schatz begreifen läßt, daß das, was Patient und Analytiker zutage fördern, dem gleicht, was sich in Geheimverstecken oder Hosentaschen eines Kindes befindet, in dem dieses seine Fundstücke aufbewahrt, die kleinen schmuddeligen Dinge, die es aufgelesen hat: ein Stück Bindfaden, tote Regenwürmer, eine Murmel, ein Schnipsel Silberpapier, den entstellten Vers eines Schüttelreimes, ein paar schmutzige Wörter, wertlos gewordene Münzen..., dann mag dies auch hier der Fall sein. Aber auch der andere Vergleich jenes Schatzes mit der Büchse der Pandora mag zutreffen. Unterhalb der geschlossenen Oberfläche des alle Risse verkleisternden Konsens-Bewußtseins wird ein Wissen sichtbar, von dem wir mit guten Gründen nichts wissen wollen. Das Band, das ich zwischen mir und dem Leser knüpfe, ist ein Sprechen, das unauflöslich mit dem Schweigen verbunden ist, mit dem zugleich der Rand des Unsagbaren berührt wird. Aus dem unbewußten Wissen der Gesellschaft, indem es sich hören läßt, wird dabei ein Wissen vom Unbewußten der Gesellschaft.
Das Ungeordnete der folgenden Artikel, das Chaotische der Gedankengänge ist der Natur der Sache geschuldet. Auf die vorwitzige Frage, wie uns etwas Unbewußtes überhaupt bewußt werden könne, da doch die unbewußte Vorstellung grundsätzlich nicht bewußtseinsfähig sei, antwortete Freud: Die Rede des Patienten vermag im Vorbewußten „nur eine Wirkung zu äußern, indem sie sich mit einer harmlosen, dem Vorbewußten bereits angehörigen Vorstellung in Verbindung setzt, auf sie ihre Intensität überträgt und sich durch sie decken läßt.“ Was übertragen wird, ist nicht das Unbewußte selbst, sondern es sind dessen Wirkungen in der Rede. Wir haben es mit den Effekten des Unbewußten zu tun. Um diese Effekte zu stimulieren, bedarf es der freien Assoziation. „Ihre Erzählung soll sich doch in einem Punkte von einer gewöhnlichen Konversation unterscheiden. Während Sie sonst mit Recht versuchen, in ihrer Darstellung den roten Faden des Zusammenhangs festzuhalten und alle störenden Einfälle und Nebengedanken abweisen, um nicht, wie man sagt, aus dem Hundertsten ins Tausendste zu kommen, sollen Sie hier anders vorgehen. Sie werden beobachten, daß Ihnen während Ihrer Erzählung verschiedene Gedanken kommen, welche sie mit gewissen kritischen Einwendungen zurückweisen möchten. Sie werden versucht sein, sich zu sagen: Dies oder jenes gehört nicht hierher, oder es ist ganz unwichtig, oder es ist unsinnig, man braucht es darum nicht zu sagen. Geben Sie dieser Kritik niemals nach und sagen Sie es trotzdem, ja gerade darum, weil Sie eine Abneigung dagegen verspüren.“ Diese Selbstkritik ist die unbewußte psychische Zensur, die es auszutricksen gilt. „Sagen sie also alles, was Ihnen durch den Sinn geht. Benehmen sie sich so, wie z.B. ein Reisender, der am Fensterplatz des Eisenbahnwagens sitzt und dem im Inneren Untergebrachten beschreibt, wie sich vor seinen Blicken die Aussicht verändert.“
Was unterscheidet den Schatzsucher in diesem Verstande vom Beichtvater? Aufrichtigkeit: „Wir wollen von ihm nicht nur hören, was er weiß und vor anderen verbirgt, sondern er soll uns auch erzählen, was er nicht weiß“. „Er soll uns nicht nur mitteilen, was er absichtlich und gern sagt, was ihm wie in der Beichte Erleichterung bringt, sondern auch alles andere, was ihm in den Sinn kommt, auch wenn es ihm unangenehm zu sagen ist, auch wenn es ihm unwichtig oder gar unsinnig erscheint. Gelingt es ihm, nach dieser Anweisung seine Selbstkritik auszuschalten, so liefert er uns eine Fülle von Material, Gedanken, Einfällen, Erinnerungen, die bereits unter dem Einfluß des Unbewußten stehen“. In diesem Sinne mögen die hier gezeigten Einträge zum fröhlichen Mitmachen ermutigen.
Abb. Jean-Jacques Lequeu