Borderliner
Für die Prediger und Anhänger des Kapitalismus galt der Menschentypus, den Max Weber einst in seiner Protestantischen Ethik konstruiert hatte und der in der amerikanischen Version als Self-made-man geläufig ist, als Garant für dessen segensreiche Entfaltung. Derselbe Typus in seiner Kümmerform, wie er durch Riesmann und Whyte näher charakterisiert wurde, sollte der marxistisch orientierten Kritik am Kapitalismus zufolge dafür verantwortlich sein, daß sich der Kapitalismus über sein überfälliges Ende am Leben hält.
Heute nun soll der Borderliner derjenige sein, der den Kapitalismus wie einen Untoten fortbestehen läßt. Christopher Lasch zufolge soll nicht mehr der autoritäre Zwangsneurotiker, sondern gerade der antiautoritäre Narziß, der partriarchale Autorität nicht anerkennt und die Familie verspottet, den modernisierten Kapitalismus stützen und ihn gegen seine eigenen Selbstzerstörungskräfte schützen.
Ausgerechnet der als pathologischer Narzist gehandelte Borderliner, in dem auch die Psychoanalyse den untherapierbaren Typus des Kranken erblickt, der den behandelbaren, im Grunde verständigen Neurotiker aus Freuds Tagen abgelöst hat, soll den Kitt bilden, der das überfällige System aufrechthält. Es entbehrt nicht der Ironie, daß dieser Typus, der doch alles, was sich gehört, nur spielt, sich und uns nur vorspiegelt, die Substanz hergeben soll, welche die soziale Welt im Innersten zusammenhält. Wenn es ihn nicht schon gäbe, wenen er nicht schon erfunden worden wäre, hätte man ihn jetzt erfinden müssen. Die Diskriminierung des Borderliners als infantiles Produkt der vaterlosen Gesellschaft hat man sich noch gefallen lassen, aber seine Aufwertung zu etwas, das den Kapitalismus vor seinem Zusammenbruch bewahrt und vor sich selber schützt, das geht denn doch zu weit. Und man hört ja deswegen nicht auf, ihn zu verachten und lächerlich zu machen. Nicht nur diejenigen, die den Kapitalismus für „alternativlos“ halten, verachten nichts so sehr wie den Borderliner. Wie geht das zusammen? Die einzig mögliche Gesellschafts- und Wirtschaftsform, nämlich die kapitalistische Demokratie, ruhte demnach also auf den schwachen Schultern dieses unreifen, charakterlosen, unverläßlichen, unsicheren Kandidaten?
Man muß sich, um den Irrsinn dieser Vereinnahmung trotz oder durch Verachtung vor Augen führen, nur vergegenwärtigen, wie der Borderliner von der Psychiatrie charakterisiert wird: als ein Bündel aus Verzagtheit und Größenwahn, aus Depression und manischen Schüben, aus primitiven Abwehrmechanismen und fadenscheinigen Kompensationsakten. Statt die Synthese von Anschauungen und Emotionen in einer konsistenten Persönlichkeit zu sein, zerfällt dieses Pseudo-Subjekt in mehrere Teile, die einander zeitlich ablösen und je nach Situation alternieren, und dessen Welt zerfällt in gute und böse Objekte, in Freunde und Feinde, wobei einunddieselbe Person mal idealisiert und mal verteufelt wird.
Dieses Subjekt verfügt nicht über erwachsene abwehrmechanismen, legt regressive Denkmuster und pathologische Ich-Schwäche an den Tag. Man beschreibt den Borderliner als Als-ob-Persönlichkeit, die an Gesellschaft nur spielerisch teilnimmt, Rollen-Sozialisation, Normen und Werte nur als Spiel betrachtet. Ein aufgeblasenes Ego muß dazu dienen, die tatsächlichen Schwächen und Mängel zu kompensieren. Der Boderliner benutzt rücksichtslos andere, um für sich ein Selbstwertgefühl zu erringen, für das ihm doch jegliche solide Basis abgeht. Ihm wird eine totale Unfähigkeit zur Empathie attestiert, er ist unfähig, sich in andere hineinzuzuversetzen, unfähig zu Mitgefühl. Er ist außerstande, eine stabile Beziehung einzugehen. Seine Umwelt zerfällt in den idealen anderen, von dem er narzißtische anerkennung erwartet und den er mit Allmacht ausstattet, und den Inbegriff des Bösen, eine Welt voller Mißgünstiger und Verschwörer. Ein schadhafteres, defizitäreres Individuum und ein demolierteres Weltbild sind kaum denkbar.
Von dem derart charakterisierten Borderliner fällt, wenn er denn als Überlebensbedingung des Kapitalismus gilt, ein verheerendes Licht auf diesen selbst. In diesem Licht wird er zur Kenntlichkeit verzerrt. Das scheint noch niemand bemerkt zu haben. Um dieser Einsicht zu entgehen, muß man ein Kunststück der Selbstverblödung vollbringen, das dem gleicht, das Shakespeare in seinem Stück „Wie es euch gefällt“ liefert: Dort gibt es eine Figur, die vorgibt, eine andere zu sein, die wiederum sie selbst spielt. Rosalind verkleidet sich als Knabe Ganymd, der oder die von Orlando gern als Rosalind umworben sein möchte, zum Zwecke einer vorgetäuschten Liebestherapie. Diese Volöte paßt zu Shakespeare, über den man sagte, nicht er selber habe seine Stücke geschrieben, sondern ein anderer desselben Namens. Von Borges gibt es die phantastische Erzählung von Pierre Ménard, der den „Don Quijote“ noch einmal geschrieben hat, als identisches und dennoch gänzlich neues Werk.
Donnerstag, 30. Dezember 2010