Capriccio

 

Der Titel der berühmtesten Radierung von Francisco Goya aus der Serie „Die Schrecken des Krieges“ (Los Desastres de la Guerra) „El sueño de la razón produce monstruos“ wird allgemein übersetzt mit: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Das Bild zeigt einen Schlafenden, der von Monstern umkreist wird. Die Interpretation scheint zwingend: Wenn ich schlafe, dann schwächt das meine Vernunft, dann können mich schlechte Träume heimsuchen. Wenn die Vernunft schläft, dann produziert sie Monster. Man darf an dieser Lesart aber Zweifel haben. Das spanische Wort suegno bedeutet sowohl Schlaf als auch Traum. Man wünscht sich mit „buon suegno“ eine gute Nacht oder einen guten Traum. Wenn el sueno nun aber nicht nur der Schlaf, sondern auch der Traum heißt, könnte es dann nicht sein, daß die Bildinschrift in Wahrheit besagt, daß die Vernunft Ungeheuer träumt, diese also selbst hervorbringt, indem sie träumt, nicht also aus mangelnder Wachsamkeit, sondern weil das ihre Natur ist. Diese Natur sieht man ihr nicht gleich an, aber wer genau hinschaut, erkennt, daß sie die Schrecken aus sich selbst heraussetzt, als würde sie sie träumen. Die minimale Sinnverschiebung wäre eine ums Ganze. Der Satz würde dann nicht mehr besagen, daß die Vernunft nur nicht schlafen darf, weil die Gefahr aus dem Nachlassen der Wachsamkeit resultiert, sondern daß die vermeintliche wache Vernunft in Wahrheit ein Schlaf ist, der sich selbst träumt. Die Gefahr läge gerade in dem, wovon wir Sicherheit erwarten. Während man sicher zu wissen glaubt, wie man sich gegen die Monster schützen kann, kommt der Feind von der anderen Seite, ist er womöglich schon drinnen, ja vielleicht kommt er sogar von innen, steht da, wo wir selber zu stehen glaubten.

 

Donnerstag, 30. Dezember 2010

 
 
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