Charisma
In der Erzählung „Mario und der Zauberer“ bilden Zauberer und Bezauberter eine Einheit und ist das Bezaubertwerden ebenso wie das Zaubern eine Aktivität und setzen beide eine eigene Fähigkeit voraus. Ohne die Fähigkeit des Zuschauers, sich bezaubern zu lassen, hätte der Zauberer keinen erfolg. Ohne die Fähigkeit eines Patienten, sich heilen zu lassen, könnte der Arzt oder Therapeut nichts bewirken. Ohne die Lernfähigkeit eines Schülers würde alles Lehren nichts fruchten. Niemand kann mit seiner Verführung etwas erreichen, wenn das angebetete Objekt nicht die Verführbarkeit mitbringt. Das Charisma eines Politikers ist nichts wert, wenn das Volk sich davon nicht beeindrucken lassen kann. Stimmvolk, Angebetete, Schüler, Patienten, Bezauberte gelten allgemein als passiv. In Geschichten, in denen sie mitspielen, gelten sie nicht als Helden. Als Helden gelten immer die erfolgreichen Akteure. Doch könnte es nicht sein, daß gerade diejenigen die eigentlichen Helden genannt zu weren verdienen, die in Geschichten, die solche Paarbildungen zum Gegenstand haben, den vermeintlich passiven Teil bilden, weil sie in Wahrheit gar nicht passiv sind?
Was geschieht, wenn jemand Adressat eines Zaubers wird, wenn jemand vom pädagogischen Eros ergriffen wird, wenn jemanden der Pfeil Amors trifft, wenn ein Volk einem Führer zujubelt, wenn jemand geheilt wird? Dieser jemand schreibt einer anderen Person eine besondere Fähigkeit zu. Er entwickelt zu ihr eine Art von übermäßigem Vertrauen. Es handelt sich nicht um begründetes Vertrauen, sondern um eine Art überschießendes, arretiertes, chronisch gewordenes Vertrauen, aufgrund einer eingerasteten Übertragungsbereitschaft, wie sie etwa Don Quijote, Pinocchio oder Nabokovs Kinbote an den Tag legen. Wie aber bringen sie es fertig, sich selber dazu zu zwingen, dieses unbegründete vertrauen zu entwickeln? Wie kommen sie in die Lage, Eigenschaften und Verhaltensweisen einer anderen Person als Angebot aufzufassen, eine Übertragung zu arretieren, sie zu etwas werden zu lassen, das sich nicht mehr abweisen läßt? Wie macht jemand einen anderen zum einzig Richtigen?
Wir verbinden das Phänomen des Charisma mit besonderen Persönlichkeiten, die über besonderen Einfluß oder übernatürliche Kräfte verfügen, Paten, Meistern, Magiern, und vergleichen es mit der Hypnose. Es deutet aber vieles darauf hin, daß der Übertragungs-Mechanismus nicht nur bestimmten Personen gegenüber auftritt oder mit ihnen in Gang kommt, aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften, sondern daß es so etwas wie eine frei flottierende Bereitschaft gibt, in imaginativ konstruierte Übertragungsangebote einzutreten, und dabei sogar von einer Person zur anderen wechseln zu können. Die Aktion liegt nicht beim Hypnotiseur, sondern bei dem, der sich hypnotisieren läßt. Die charismatischen Führer und Magier sind austauschbar. Nicht austauschbar ist einzig derjenige, der jenen die besondere Eignung zuschreibt.
So wie man von der Liebe sagt, daß sie blind mache, so sind wir in allen Übertragungsverhältnissen blind für den bestimmten Anderen, gerade weil dieser zu einem nicht mehr Austauschbaren gemacht werden muß. Dieser oder diese Andere kann, wie wir von E.T.A. Hoffmann und seiner Olimpia lernen können, sogar eine Puppe sein. Es kommt auch vor, daß eine Übertragungsneurose, wenn sie einmal mit einer bestimmten Person in Gang gekommen ist, eine Trennung von dieser übersteht, durch die Trennung in ihrer Wahnhaftigkeit sogar noch verstärkt wird und anhält in einer Weise, daß andere in die frei gewordene Stelle eintreten können.
Es ginge also darum, den Fokus von der charismatischen Figur des Meisters, Magiers oder Magnetiseurs weg zur Person desjenigen hin zu verschieben, der die Übertragungsbereitschaft entwickelt und ihn als eigentliches Subjekt und Regisseur solcher Vorgänge begreifen zu lernen, die sich eben nicht in Selbstsuggestion und masochistischem Befehlsgehorsam oder sonstigen Manifestationen von Passivität, oder Naivität erschöpfen. Im Unterschied zum Patienten sind Analytiker ersetzbar. Die Hauptperson des Übertragungsdramas ist nicht der Meister, sondern der Schüler, nicht der Arzt, sondern der Patient, nicht der Reichtum der Reize der oder des Angebetenen, sondern der Mangel des Anbetenden, der diesen befähigt, den zu erfinden, der die Erfüllung bringt, wovon Spinoza ebenso überzeugt war wie Marcel Proust.
Der Beweis für diese Umkehrung zeigt sich am Ende einer charismatischen Beziehung. Der Schüler begibt sich in eine Position, in der er auf die Macht verzichtet, das Machtverhältnis von sich aus auflösen zu können. Welches Problem sich hieraus für das Ende der Lehrzeit ergeben, machen die Zen-Geschichten deutlich. Als Selbstbefreiungsschläge aus Double-bind-Situationen haben sie Ähnlichkeit mit der Dramaturgie von Märchen. Das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler erscheint als Knoten, der nur im Anflug eines provozierten Größenwahns durchgehauen werden kann. Der Schüler kann den Ertrag seiner Laufbahn nur verbuchen, indem er den zeitweilig notwendigen Wahn hinter sich läßt, ihm würde vom Lehrer geholfen und er könne auf dessen Hilfe rechnen. Die Hilfe, die der Lehrer nun anbietet, besteht in unmöglichen Aufgaben, etwa dem Klatschen mit einer Hand. Sie ist sinnvoll nur im Nachhinein, nachdem der Schüler erkannt hat, daß die Aufgabe darin bestand, sie nicht ausführen wollen zu müssen. Die Hilfe bestand dann nachträglich darin, den Schüler instandzusetzen, auf Hilfe nicht mehr rechnen zu müssen. Der Lehrer hat sich selbst unnötig gemacht. Das konnte er nur, weil der Schüler selbst den Akt des Durchhauens des gordischen Knotens vollführte. Den Zauber, der Schüler und Lehrer unlösbar miteinander verbindet, kann von Lehrer selber nicht gebrochen werden, nur vom Schüler. Das Problem des Endes einer Bindung kennen und fürchten vor allem Liebende und Psychoanalytiker.
Donnerstag, 30. Dezember 2010