Lust

 

Der Tanz am Rande des Abgrunds, den die europäischen Staaten und die USA aufgrund der unabsehbaren Folgen der Finanzkrise gegenwärtig aufführen, verweist auf die soziologische Funktion der Lust, speziell auf unsere Lust am Kapitalismus, darauf, daß Kapitalisums das Lustvolle an der Wirklichkeit bezeichnet. Die Lust ist das, was uns befähigt, unsere kollektive Insektenstaatexistenz zu führen, die hormonelle Ausstattung, die uns unsere individuelle Autonomie vorgaukelt. Dazu gehören all die Strategien der Selbstvorspiegelung der Autonomie, Verträge einzugehen, sowie der Cleverness, Aufgeklärtheit, der Reife, des Erfolgs.

Das Individuum kann die Wirklichkeit nur in dem Maße akzeptieren, wie sie ihm die Möglichkeit bietet, mit ihrer Hilfe eine Form der eigenen spezifischen Erfahrungsweise wiederzufinden, wie er sich in ihr wiederfinden kann, oder – in der psychoanalytischen Terminologie – wie er sie mit den eigenen Abwehrmechanismen in Übereinstimmung bringen kann. Nachdem er die Strukturen einander angeglichen hat, gewinnt der Mensch der Wirklichkeit die spezifischen Phantasien ab, die ihm Lust bereiten, und rechtfertigt seine Phantasien, indem er sie in eine umfassende Erfahrung ästhetischer, moralischer, intellektueller oder sozialer Kohärenz und Bedeutsamkeit transformiert. Leben ist die Geschichte des Individuums, das ständig auf Strukturen stößt, die einen Zusammenhang suggerieren. Es hat aber immer wieder den Eindruck, auf der Schwelle des Verstehens in der Schwebe gehalten zu werden, so daß es sich niemals ganz zurechtfinden oder den vielen Strukturen eine Ordnung unterlegen kann.

Im Verhältnis des Individuums zur Wirklichkeit vollzieht sich eine Spaltung des Selbst. Leben heißt, eine Erfahrung zu postulieren. Es besteht darin, sich vorzustellen, was ein Mensch fühlt und versteht. Leben heißt, mit der Hypothese eines Menschen zu arbeiten. Anscheinend haben wir aber ein Interesse, den Glauben an die Erfahrung als Basis aufrechtzuerhalten und so diese Spaltung zu verdecken oder zu verdrängen, den hypothetischen Spielcharakter zu vergessen. Die eigene Aktivität wird in ihrer Ausübung sogleich wieder vergessen, im selben Moment, in dem wir als mehr oder weniger latentes Muster die vermutete Ordnung der Wirklichkeit identifizieren und an die Oberfläche bringen. Der Akt der Reifizierung muß über manchen Abgrund hinwegspringen. Die Wirklichkeit enthält oder glänzt durch ausreichend viele Lücken in ihrer Logik, die der Intellekt durch einen Sprung der Vorstellungskraft zu überbrücken gezwungen ist. Diese Bereitschaft ist die Lust an der Wirklichkeit. Das von seiner Lust bestimmte Individuum ist dasjenige, das die Neurose zur halluzinierten Form der Wirklichkeit in Beziehung setzt. Wir müssen uns das Individuum als ein bizarres Wesen vorzustellen, das sich von der Angst, sich zu widersprechen, befreit hat, das Widersprüche übergeht, das Sprachen miteinander vermengt, die als unvereinbar gelten, und das den Vorwurf des Illogismus stumm erträgt. Die Regeln unserer Institutionen möchten eine solche Person zu einem Außenseiter machen. Wer kann schon ohne Scham im Widerspruch leben? Dennoch, dieser Anti-Held existiert: Es ist das Individuum in dem Moment, wo es Lust empfindet.

 

Samstag, 1. Januar 2011

 
 
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