Lotto
Nicht nur ist menschliches Verhalten nicht vornehmlich rational, nicht nur sind wir in der Lage, es insgesamt für rational zu halten, es gelingt uns sogar, offensichtlich irrationales Verhalten selbst als rationales auszugeben. Ein signifikantes Beispiel für die Abwegigkeit der Rationalitäts-Annahme bei gleichzeitiger Bestätigung bildet das Lottospielen. Die Gewinnchance liegt bei 1: 140 Millionen, ist also praktisch gleich Null. Trotz der offenkundig irrationalen Verhaltensweise nehmen diejenigen, die sie an den Tag legen, ihr Verhalten als rational wahr und halten die Kosten des Mitspielens für eine sinnvolle Investition, sinnvoller, als die tägliche Erwerbsarbeit. In ihrer Studie „Wer spielt, hat schon verloren“ zählen zwei Autoren das Lotterielos zur Klasse der „Güter mit negativem erwartetem monetären Nutzen“. Lottospieler sind sich der praktischen Chancenlosigkeit bewußt und spielen nicht in Unkenntnis der verschwindend geringen Gewinnchancen, die sie gleichwohl magisch überbewerten. Dies ist umso bemerkenswerter, als der Anteil, der für Lotterielose aufgewendet wir, mit sinkendem Einkommen steigt.
Die wahnwitzig geringe Gewinnchance müsse durch etwas anderes mehr als aufgewogen werden. Dieser Mehrwert bilde den sozialen Aspekt des Lottospiels. Was hier zur Geltung komme, sei der Vergemeinschaftungseffekt des Spiels generell, der mit dem der Arbeit zu vergleichen sei. Spieler reden mit Mitspielern über das Spiel und schaffen soziale Netzwerke, deren Eintrittskarte das Los ist. Hier wird nicht das Gewinnen sozialisiert, sondern das Verlieren. Der Gewinner würde nicht mehr zu diesem Kollektiv gehören. Der Vorteil des Verlierens aus Glücklosigkeit liegt in seiner Entlastungsfunktion. Solche Verluste lassen sich abschreiben an die sozial blinde Macht des Zufalls, man muß sie sich nicht selbst zuschreiben – im Unterschied zum Verlieren bei Castings oder Quiz-shows etwa, die regelmäßig heulendes Elend hinterlassen. Die regelmäßige Erneuerung der Gewinnchancen zeigt die Geschichtslosigkeit des Spiels. Jedes Spiel ist das erste. Lotto kennt keine Verlierer-Biografien oder Karrieren. Am Samstagabend sind alle wieder gleich.
Das Gemeinschaftserlebnis beruht nicht auf der verheißenen Gewinnchance als Teilhabe an einem wahnhaft vorweggenommenen Wohlstand, es handelt sich um eine bewußt illusionäre Partizipation, die gerade als illusionäre stabiler ist als das Spekulieren mit realen Erfolgsaussichten. Ausgeschlossen ist erst der, der nicht mehr mitträumen darf, weil er entweder gewonnen hat oder kein Geld mehr besitzt, um mitspielen zu können. Ein geringer Einsatz reicht freilich aus. Die Teilhabe am Wohlstandsversprechen ist als Investition unabhängig gemacht von dem Umfang der Mittel, die man einsetzen kann. Auch Herkunft, Talent, Wissen der Teilnehmer sind irrelevant. So ist das Lottospielen eine „ritualisierte Affirmation der Rolle des Glücks für das Zustandekommen sozialer Ungleichheit“.
(Jens Beckert und Mark Lutter, „Wer spielt, hat schon verloren“? Zur Erklärung des Nachfrageverhaltens auf dem Lottomarkt, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Julie 2007)
Samstag, 1. Januar 2011