Moral des Verbrechens

 

Schiller schuf mit seinem Christian Wolf, der durch eine unglückliche Liebe und einen erfolglosen Kampf mit seinem Rivalen Robert zum Wilddieb wird und im Gefängnis landet, den „Verbrecher aus verlorener Ehre“. Es seien häufig gerade die besten von uns, die straucheln und in eine Abwärtsspirale gerieten. Weiter ging Émile Durkheim (in: Die Regeln der soziologischen Methode. Luchterhand: Neuwied 1961 (Original: Les règles de la méthode sociologique. Félix Alcan, Paris 1895) mit seiner These, daß Kriminalität normal und unter Umständen sogar funktional und damit nützlich für die Gesellschaft sei. Dies scheint dem gesunden Menschenverstand in geradezu herausfordernder Weise zu widersprechen. Dieser Umstand war dem französischen Soziologen durchaus bewußt, als er sich Ende des 19. Jahrhunderts mit der Thematik befaßte. In seinem Werk "Regeln der sozialen Methode" (1895) begründet Durkheim die These damit, daß Kriminalität und Abweichung in jeder Gesellschaft zu finden seien, ebenso wie die Strafe als Repressionsmittel. Eine Gesellschaft ohne abweichendes Verhalten sei unvorstellbar. Die Identität eines sozialen Systems setze lediglich ein relevantes Maß an Übereinstimmung seiner Mitglieder im Hinblick auf Normen und Werte voraus. Eine vollständige Konformität des Einzelnen mit dem Kollektivbewusstsein sei jedoch unmöglich und nicht einmal wünschenswert. Die Schwere eines Vergehens bemißt sich an der Rigidität der jeweiligen Regeln. Wenngleich schwere Verbrechen im eigentlichen Wortsinn in der Gemeinschaft eines musterhaften und vollkommenen Klosters nahezu undenkbar sind, werden Vergehen, die dem Durchschnittsbürger verzeihlich und kaum der Rede wert erscheinen, dort dasselbe Ärgernis erzeugen wie der gewöhnliche Verbrecher in der Gesellschaft. Die sogenannte kriminologische Dunkelfeldforschung kommt zu dem Ergebnis, daß rund 90 Prozent aller Menschen in ihrer Jungend mindestens einmal etwas Illegales getan haben. Siegward Roth stellt in einer Untersuchung der organisierten Kriminalität fest, daß sich diese derselben Ideologie und Wertewelt verbunden fühlt wie die Gesellschaft und ihr Wirtschaftssystem. Aus dieser Perspektive ist also auch die organisierte Kriminalität nicht etwas Fremdes, was sich eingeschlichen hat, sondern etwas Zugehöriges und damit Systemimmanentes. Ferner hebt Roth die Doppelmoral des Durchschnittsbürgers hervor, der zwar Kriminalität im Grunde ablehne, selbst aber permanent gegen alle möglichen Normen verstoße. In diesem Zusammenhang verweist er auf Forschungen, die belegen, daß 75 Prozent der Angestellten im Einzelhandel mindestens einmal etwas gestohlen haben.

Das Vorhandensein von Kriminalität bedeutet nicht zwangsläufig, daß das soziale Gleichgewicht der Gesellschaft dadurch gestört wäre. Je moderner und differenzierter eine Gesellschaft ist, desto schwieriger ist für sie die Durchsetzung von allgemeingültigen Normen, deren Akzeptanz durch die Mitglieder für den Zusammenhalt gleichwohl unerläßlich ist. Das Problem ist nicht durch die Differenz von Kollektivbewußtsein und Individualinteresse zu erklären. 

Durkheim spricht von Verbrechen als einem Faktor der öffentlichen Gesundheit. Kriminalität dient als Kontrastmittel des Richtigen und Guten vor dem Hintergrund des Bösen. Es verhilft zur Verdeutlichung und Bekräftigung der Normen und zu der Illusion, eine klare Grenze zwischen erlaubtem und verbotenem Handeln ziehen zu können. Darüber hinaus kann Kriminalität als eine Art Katalysator dienen. Durch das Verbrechen kann ein sozialer Wandel initiiert werden. "Wie oft ist das Verbrechen wirklich bloß eine Antizipation der künftigen Moral, der erste Schritt in dem was sein wird." Als Beispiele aus jüngerer Zeit lassen sich die Änderung des §218 StGB anführen sowie die Erlaubnis der Homo-Ehe. Die Grenze dieser Funktionalität der Verbrechens liegt in der Anomie. Im soziologischen Sinne pathologisch wird das Verbrechen erst da, wo das Kollektivbewußtsein in den Zustand der Normlosigkeit versetzt oder zerstört wird. Kriminalität ist funktional solange, wie das Kollektivbewußtsein dadurch gestärkt, stabilisiert und weiterentwickelt wird.

Man kann den Gedanken Durkheims dahingehend zuspitzen, daß überall da, wo das Kollektivbewußtsein politisch gelenkt und gestärkt wird, dies mit einer Legitimierung von zunehmender Gewalt im Namen der Normalität einhergeht, von Verbrechen, die von der Staatsgewalt selbst verübt werden. Im Nachhinein, nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Untergang der DDR, nach dem Ende General Francos, nach dem Ende der Militärjunta in Argentinien, nach der Abwahl von Präsident Bush junior, etc., zeigt sich die unauflösbare Schwierigkeit, die im Namen der Normalität verübte Gewalt von der ungesetzlichen Gewalt im Sinne eines einheitlichen Kollektivbewußtseins zu unterscheiden. Das Gewaltmonopol des Staates rein zu halten, ist nicht deshalb unmöglich, weil man aus politischen Gründen moralisch ein Auge zudrücken muß, sondern deshalb, weil Verbrechen prinzipiell moralisch sein kann, da nämlich das Kollektiv sich gegen den Einzelnen verselbständigen und sich auf die Hinterbeine stellen und zum Monster werden kann.

Adorno hat in diese Richtung gedacht, als er Canettis Masse-Buch kommentierte: "Ihre Theorie des Befehls, die mir deshalb so eminent aufklärend und wesentlich erscheint, weil Sie etwas aussprechen, was (...) sonst hinter der Fassade der Gesellschaft weitgehend verschwindet, daß nämlich (...) hinter allen sozialen, im prägnanten Sinn sozialen, gebilligten, sozial geforderten Verhaltensweisen etwas wie die unmittelbare physische Gewalt, also die Drohung der Vernichtung steht. Und ich glaube, nur, wenn man sich darüber klar ist, daß die Sozietät und damit die Selbsterhaltung des Menschen selber überhaupt zu ihrer Substanz die Todesdrohung hat, nur dann kann man der furchtbaren Verschränkung von Überleben, wie Sie es nennen, und Tod recht inne werden."

 

Samstag, 1. Januar 2011

 
 
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