Mob

 

Normalerweise sind bewußtes Ich und das unbewußte (subwaking) Ich so miteinander verbunden, daß das reflexive Ich steuernd auf das unbewußte Ich einwirken kann. Ein zeitweiliges Auseinanderklaffen der beiden Ich-Dimensionen ist aber etwas, was in jeder Menschenmasse vorkommenen kann. Eine Ansammlung von Menschen kann sich jederzeit in einen Mob verwandeln. Im Mob findet eine instabile und damit problematische Trennung der beiden Dimensionen statt, die nun nicht mehr hierarchisch aufeinander bezogen sind und in diesem Fall ist ein pathologischer Zustand erreicht, bei dem nach geltender Auffassung die konstitutive Grenze zwischen Individuum und Umwelt geschwächt oder aufgehoben ist.

Wie entsteht aus der Ansammlung der Mob? Die körperliche Bewegungsfreiheit des Individuums muß weitgehend eingeschränkt sein. Die Aufmerksamkeit muß durch ein besonders attraktives oder spektakuläres Objekt gefangengenommen werden, und es muß eine soziale Atmosphäre überspannter Erwartungen geschaffen worden sein. Im Klima der sich aufschaukelnden Erwartungsübersteigerung entsteht eine ansteckende Atmosphäre, in der sich blitzschnell die Dynamik des Mobs entfalten kann. Das Normale verwandelt sich in etwas Pathologisches, ohne daß sich angeben ließe, was sich geändert hat. Die Konstitution des Sozialen hat gewissermaßen ihre eigene dunkle Unterseite, die sich dabei hervorkehrt. Der Ordnung läßt sich nicht einfach das Chaos gegenüberstellen, sondern aus der einen Ordnung kann eine andere Ordnung werden, und diese Möglichkeit der Verwandlung ist immer angelegt. Ohne diese Potenz in kauf zu nehmen, ist soziale Ordnungsbildung überhaupt nicht möglich. Das Soziale läßt sich ohne den unter der Oberfläche hausenden, nur notdürftig versteckten und jederzeit an den Tag kommenden Mob gar nicht denken. Die moderne Gesellschaft fürchtet sich zwar vor dieser Metamorphose und den Mechanismen, nach denen sie erfolgt, doch ist sie auf die Suggestibilität der Massen angewiesen, da ihre anonymisierten Abläufe auf blinden Gehorsam angewiesen sind, der nur über Suggestion funktionieren kann. Blind obedience is a social virtue. Da die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft durch ihre zahlreichen Reglementierungen und Vorschriften den Spielraum des Individuums empfindlich beschneidet (limitation of voluntary movements), schafft sie die idealen Voraussetzungen für Manien und Paniken. The demon of the demons wird geweckt, sobald etwas Außergewöhnliches die Aufmerksamkeit des fixierten und beinah bewegungslosen Individuums auf sich lenkt. Darauf müssen moderne Gesellschaften bauen.

Im 19. Jahrhundert glaubte man sich noch auf die strikte Unterscheidung von bürgerlicher Öffentlichkeit und Masse verlassen zu können. Man zog eine klare Grenze zwischen einem demokratischen Publikum und einem zur Demokratie unfähigen Außen, das auf seine körperliche Materialität reduziert und als uninkludierbar angesehen wurde. Für Amerika propagierte Walt Whitman die Idee einer All-inclusive-Demokratie, in der die Massen ein unentbehrliches Fundament für die Demokratie sind. Ein alles umfassender Affekt ersetzt die konfliktreiche demokratische Urteilskraft, was freilich mit der Hoffnung verbunden ist, der Einzelne möge durch die Erhabenheit seines eigenen massenhaften Auftretens kultiviert und der Tumult so kontrolliert werden. Noch die Malerei eines ...?... spricht die Beschwörungsformel: who’s afraid of red yellow and blue?

Die moderne Architektur zeugt von dem konstitutiven Widerspruch zwischen Angewiesenheit auf die Masse und der Furcht vor den Auslösern des Ansteckenden (contagious) und Unkontrollierbaren. Le Corbusiers Stadtpläne sprechen von seiner Massenfurcht und Straßenphobie. Sie sind besessen von der fixen Idee der Topos der verstopften Straße. In seinen Horrorphantasien, deren verräterisches Negativbild seine Entwürfe bilden, werden die Straßen um die Börse von einer „motley crowd, who all day long make the neighbourhood hideous with their shoutings, yellings and quarrelings. the sidewalk is impassable…boistereous overflow of commotion. they speak all at once, yelling and screaming like hyenas. pandaemonium is not wilder“. Es geht hier um den Versuch der Eliminierung von fear and fantasy.

Der Rigorismus eines Le Corbusier verträgt sich heute nicht mehr mit den ästhetischen Standards. Auf welche Weise versucht man heute, die Angst vor der Masse zu neutralisieren. Wie ist es möglich, die Masse zuzulassen, ohne daß sie gefährlich werden kann, ohne sich der Mittel zu begeben, sie jederzeit zu stoppen? Die neoliberale Deregulierung der Finanzmärkte hat gezeigt, wo die Gefahren liegen und den voreilig weggewischten Verdacht erneut bestätigt, daß sie nicht prinzipiell zu beherrschen sind. Die vermeintliche wirtschaftliche Notwendigkeit, die professionellen Spekulanten durch massenhaftes Mitspielen zu unterstützen, hat ihr explosives Potenzial in den USA und in allen europäischen Ländern offenbart.

 

Samstag, 1. Januar 2011

 
 
Erstellt auf einem Mac

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