Schule
Wie Inklusion und Exklusion erfolgen, kann man am System Schule sehen. In den „Buddenbrooks“ läßt es sich dort studieren, wo Thomas Mann einen Schultag im Leben des fünfzehnjährigen Hanno Buddenbrook beschreibt. Man sieht sowohl die Gnadenlosigkeit des Fortgangs des Unterrichtsgeschehens; die Unerwünschtheit der Inklusion aus der Perspektive der Schüler, da sie es vorziehen, vor sich hin zu „träumen“ und zu „brüten“; die irgendwann dann doch erfolgende Inklusion als kommunikative Adressierung durch den Lehrer, die den Schüler in das Unterrichtsgeschehen als eine Prüfungsmaschinerie hineinzieht, bis sie ihn als einen „Vernichteten“ oder zufällig Geretteten wieder ausspuckt; schließlich die explizit gemachte Exklusion in der Ankündigung des Schuldirektors (des „lieben Gottes“), der den zahlreichen in der Englischstunde ihrer Inkompetenz überführten Schülern ankündigt: „Ich will euch eure Carrière schon verderben.“
Man erkennt, wie sehr das Schulgeschehen den psychischen Systemen der Schüler äußerlich bleibt und wie doch die Schüler dem System in seiner Exteriorität kritiklos Reverenz erweisen. Es zeigt sich, daß die Schüler den Bewertungen trotz ihrer zutage liegenden Zufälligkeit und Ungerechtigkeit kein selbständiges Urteil entgegenzustellen vermögen, sondern sowohl der „Vernichtung“ der in ihrer mangelnden Vorbereitung entdeckten Schüler wie dem durch einen unentdeckten Betrug zustande gekommenen „Erfolg“ kritiklos hinnehmen. In den Buddenbrooks dokumentiert sich das Versagen des Kandidaten Modersohn darin, daß er nach einer Reihe von bereits gegebenen Stunden Namen und Schüler immer noch nicht einander zuzuordnen weiß, so daß er zwar die Namen der Schüler aus dem Klassenbuch verliest, aber die so angesprochenen Schüler sich totstellen, also Inklusion verweigern. Entsprechend behandelt das Sozialsystem Schulklasse einige der ihm eigentlich zugehörigen Schüler gleichsam als „lebende Tote“ behandelt, von denen man nichts mehr erwartet und deren kommunikative Adressierung nach Möglichkeit vermieden wird.
Während sich die Inklusion durch Rollen und diesen Rollen zugeordnete Erwartungssets beschreiben läßt, scheint die Exklusion gerade dadurch definiert zu sein, daß an diejenigen, die exkludiert worden sind, keinerlei Erwartungen mehr gerichtet werden. In einer Gesellschaft mit Schulpflicht und postulierter Chancengleichheit muß jedoch Exklusion ebenfalls als eine Form der Inklusion beschreibbar sein. Die entsprechenden Rollen sind die Lernunwilligen und Schulabgänger und Studienabbrecher. Niklas Luhmann sucht den Gedanken einer Koppelung des Lernens mit dem Lernen des Lernens dadurch zu modernisieren, daß er für künftige Reformen des Erziehungssystems die These aufstellt, es gelte „das Lernen von Wissen weitgehend ... durch das Lernen des Entscheidens, das heißt: des Ausnutzens von Nichtwissen“ zu ersetzen. Die Gesellschaft braucht „verschiedene Menschen“, die „verschieden erzogen werden“ müssen, etwas daß „nicht mehr im Rückgriff auf die Natur des Menschen begründet“ werden kann. Der Code des Erziehungssystems ist als „Selektionscode“ definiert und scheint auf den Dualismus „besser/schlechter“ festgelegt. Man könnte ironisch fragen, ob der Code des Erziehungssystems nicht nach Pädagogenmanier vielleicht „gebildet/ungebildet“,„vermittelbar/nicht-vermittelbar“ oder „artig/unartig“ lauten solle. Den Pädagogen empfahl er, den Code „besser/schlechter“ so zu handhaben, wie die „Royal Society“ den Code „wahr/unwahr“ auslegt, wenn sie die Widerlegung von Hypothesen und Theorien ebenso als wissenschaftlichen Erfolg feiert wie deren Bestätigung. Wenn erst einmal Lehrer gelernt hätten, ihren Beruf als eine Tätigkeit zur Unterscheidung besserer und schlechterer Schüler auszuüben und in der Identifikation einer schlechteren Leistung ebenso einen Erfolg erblickten wie in der Feststellung einer besseren Leistung, dann werde auch in das Erziehungssystem jene Ordnung Einzug halten, die sich in anderen Systemen längst bewährt habe. Es kommt nicht darauf an, daß alle durchkommen, sondern daß nicht alle durchkommen.
Sonntag, 2. Januar 2011