Siegfried
Wotan weiß, daß die Götter abgewirtschaftet haben, wie er in einem vertraulichen Gespräch mit seiner Tochter Brünhilde bekennt. Zu sehr sind alle Götter, er selbst nicht ausgenommen, in kompromittierende Verträge verstrickt. Rettung sieht er einzig noch darin, daß ein reiner Held geboren wird, der eine ganz neue Herrschaft errichtet. Er stiftet seine Kinder Sigmund und Siegline an, die einander in Liebe zugetan sind, ein Kind zu zeugen. Wotans frau Fricka aber, die davon erfährt, verbietet dieses inzestuöse Vorhaben und sorgt dafür, daß der aufgebrachte Ehemann Sieglindes Siegmund erschlagen will. Doch Wotan fährt ihm in die Parade, so daß Hunding zustechen kann. Es ist jedoch zu spät, Siegfried ist bereits unterwegs. Brunhilde sorgt dafür, daß Siegfried lebt. Wotan muß Fricka versprechen, sie dafür zu bestrafen. Er verdonnert sie dazu, in einem Dornröschenschlaf verharren und den ersten Mann nehmen zu müssen, der vorbeikommt. Auf das Bitten und Flehen seiner Tochter hin wandelt er das Urteil um in die Gefangenschaft auf der von einem Feuerwall umgebenden Burg und die eingeschränkte Verpflichtung, den Mann zu nehmen, der diesen Feuerwall überwinden kann. Sie ist sicher, daß dafür nur Siegfried in Frage kommt. Wotan hätte aus Angst vor seiner Frau Fricka sein Vorhaben fast verraten, wenn Brunhilde nicht heimlich und listig seine Verwirklichung weiter betrieben hätte. Siegfried strotzt vor Kraft und ist in seinen Launen unberechenbar. Selbst der Schmied, zu dem man ihn schickt, damit er Disziplin lerne, bekommt Angst vor ihm und versucht ihn loszuwerden. Er schickt ihn in die Sümpfe. Aber anstatt darin umzukommen, erschlägt Siegfried den Drachen, kehrt zurück und bringt Mime um. Dann verhilft er Gunther dazu, der Mann zu sein, den Brunhilde nehmen muß. Und damit ist die Serie der Täuschungen, des Lavierens, der Mißverständnisse und der ungeplanten Nebenfolgen, also des Schadensberichts längst kein Ende.
Worauf, so muß man sich fragen, gründet sich Wotans Utopie und Zuversicht? Auf die berserkerhafte Kraft Siegfrieds oder auf seine an den tumben Tor Parzival erinnernde, an Schwachsinn grenzende Naivität? Unmöglich zu sagen, worin er, angesichts des angerichteten Chaos das Erlösende und Reinigende gesehen oder erhofft haben mag. Wotan machte wohl denselben Denkfehler wie die Deutschen, als sie Hitler vertrauten. Hitler selbst jedenfalls scheint sich mit Siegfried identifiziert zu haben. Bei der Privatvorführung im Führerbunker in den letzten Wochen seines Lebens kamen ihm die Tränen. Siegfrieds wie sein Rettungswerk wurden seinem Gefühl nach nur dadurch zunichtegemacht, daß ihn das Volk verriet und damit bewies, daß es seiner nicht würdig war. Mit jener von Schwachsinn nicht unterscheidbaren Naivität muß man rechnen. Sie ist vielleicht das, was den Menschen überhaupt ausmacht.
Sonntag, 2. Januar 2011