Tumult
Rousseau entwirft das Bild des in Gesellschaft isolierten Einzelgängers. Ihm zufolge werden die Menschen in Gesellschaft und insbesondere im Theater wie im kodierten Fest vereinzelt, statt sie zu vereinigen, wie das offiziell doch angenommen wird. Augenblicksekstasen als Modell für eine andere Art von Fest traute er dagegen zu, das Muster für eine Erneuerung der Gesellschaft nach der Anomie produzierenden terreur der französischen Revolution abzugeben. Die Konstruktion des spontanen Festes wird zur Konstruktion der Gesellschaft gesteigert. Während im kodierten Zeremoniell die Einschnürungen und Vorschriften die Oberhand gewinnen, zeichne sich das spontane Fest als soziale Ekstase durch Transparenz und Widerstand aus.
In Robespierre hatte Rousseau einen seiner glühendsten Verehrer. Dieser sah in seinem Idol nicht nur den Oberpriester eines Deismus, der das Christentum durch eine Mischung aus profaner Sakralität und Freimaurer-Allegorie ersetzen und die Schaffung eines Gemeinschaftsgefühls durch eine Atmosphäre der Pseudoreligiosität unterstützen sollte, sondern auch den Dramaturgen eines permanenten Volksschauspiels und den Paten eines neuen Festtagskalenders, der die Bürger auf die großen Tage und die neuen Errungenschaften der Revolution einschwören sollte. So feierte man den Tag des Sturms auf die Bastille, spielte den Sturz der Monarchie periodisch nach und feierte die Föderation, die Freiheit und die Vernunft. Auch die Feste zur Ehre des "höchsten Wesens", so nannte man das Objekt der rousseauistisch-deistischen Anbetung, die den massenpsychologisch zu unergiebigen Naturkult ergänzen sollte, beging man mit Umzügen, die an bestimmten, an die Revolution erinnernden Stationen halt machen, wo sich Triumphbögen, Statuen und sprechende Architektur erhoben.
Doch Robbespierres Interpretation Rousseaus krankt an der Stillstellung des Tumults duch einen Regisseur und einen Kalender. Wenn Durkheim in jenen neuen Festen ein Muster dessen sah, was in der neuen Zeit die soziale Welt im Innersten zusammenhält, dann vertraute er auf ein Element dessen, was den Untergang der alten Ordnung besiegelte, die zu entdeckende positive Seite der losgelassenen Menge, das, was Canetti später die „offene Masse“ nennen sollte, die sich spontan bildet. Einem Kompromiß von Robespierre und Durkheim kann man alljährlich bei den Feiern zum 14. Juli beiwohnen, wenn Paare auf den Straßen tanzen.
Dienstag, 4. Januar 2011