Rotkohl
Rotkohl schmeckt am zweiten Tag besser. Was man am Vortag gegessen und noch einmal aufgewärmt hat, ist kompakter und nahrhafter und im Aroma kräftiger. Inbegriff dieser Praxis ist der Stopfkuchen. Bei Wilhelm Raabe ist dies der Spitzname eines dicklichen, etwas unbeholfenen Jungen, den dieser sich zu eigen machte und schon und sein ganzes Leben lang trägt. Er ist der Erzähler und der Aufklärer der erzählten Geschichte. Er hat die Erbin eines Gutes geheiratet und erlöst sie vor der Verfolgung durch die Gemeinschaft, nachdem der Verdacht in einem Mordfall auf ihren Vater gefallen war. Zu Unrecht, wie wir am Ende des Romans wissen. Der Verdacht hat eine gigantische Welle des Mobbings gegen diese Familie ausgelöst. Der Erzähler kann beweisen, wer tatsächlich der Mörder war.
Der Autor hat die Geschichte erzählt bekommen von seinem Schulkameraden Stopfkuchen, der als mündlicher Erzähler auftritt. Der Autor, derjenige also, der das Erzählte niederschreibt, ist ein Kaufmann, sogenannter Auslandsdeutscher, Vertreter der wilhelminischen Kolonialismus. Mit der Lösung des Mordfalles geht einher, daß die angebliche Weltoffenheit des Kolonialismus im Laufe der Erzählung vollkommen dementiert wird. Der Autor beginnt als ungeschickter Amateur. Er lernt erst im laufe der Erzählung zu schreiben. Erst am Ende des Romans fährt er mit allen stilistischen Mitteln auf. Eine „Seegeschichte“, wie der Untertitel sagt, ist der Roman insofern, als er auf einer Schiffsreise niedergeschrieben wird, an den 30 Tagen, die diese von Hamburg nach Kapstadt dauert. Erzählt wird sie dem Autor im Binnenland, an einem einzigen Tag. Die Handlung selbst erstreckt sich über 30 Jahre. Es gibt also eine extreme Spreizung von Erzählzeit und Handlungszeit. Der Witz dieses Romans liegt in der trickreich komplexen Erzählform mit zahlreichen Spiegelungen.
Robert Louis Stevensons "Der Master of Ballantrae“ erzählt in einer weit ausgreifenden Handlung vom lebenslangen Zwist zweier ungleicher Brüder aus dem schottischen Hochadel zur Zeit des schottischen Bürgerkriegs. Der eine der Brüder ist ein charismatischer, schillernder, faszinierender Draufgänger, Abenteurer und vor allem diabolischer Bösewicht, der andere ein besonnener, rechtschaffener, behäbiger Langeweiler und Gutmensch. Sie kämpfen um die Gunst des Vaters, um die Liebe derselben Frau und um das Familienerbe, und sie kämpfen wie zwei ineinander verbissene, tollwütige Hunde bis in den Tod.
In einem Essay für die "Weltbühne" hat Lion Feuchtwanger Stevensons Erzähltechnik analysiert: "Das Bild der beiden Männer, ihrer Taten, ihres Kampfes, wird von Anfang an gebrochen dadurch, dass die Erzählung einem gewissenhaften, beamtenhaften, philiströsen Sekretär in den Mund gelegt ist, der den wackeren Mittelmäßigen liebt und den glänzend begabten Bösen hasst. Es ist meisterlich, ein Kunstbeispiel ganz großer Epik, wie durch diesen Kunstgriff Licht und Schatten verteilt, Neigung und Gegenneigung ausgewogen werden und wie dann ganz sacht der Leser darüber unterrichtet wird, dass Mund und Feder des Berichterstatters nicht ganz objektiv seien, wie durch fast unmerkliche Belichtung der Quellen der Eindruck höchster Sachlichkeit erzielt wird. Es wird dem Leser gezeigt, wie ein schlechter Mann von großem Format und ein wackerer Mann von mittlerem Format und ein sehr wackerer Mann von subalternem Format sich in gewissen Situationen verhalten, und die Stellungnahme dazu wird durchaus dem Leser überlassen." Der Kunstgriff, einen durch und durch diabolischen, aber in seiner Bösartigkeit faszinierenden Charakter aus der Sicht eines durchschnittlichen, peniblen Langeweilers zu erzählen und damit perspektivisch zu brechen, ohne moralinsauer werden zu müssen, hat Schule gemacht. Thomas Mann berief sich auf Stevensons "Master von Ballantrae" für die Konstruktion seines "Doktor Faustus".
Samstag, 26. Februar 2011