Angst sans phrase
Man verwechselt notorisch Angst mit Angst. Das philosophische Gefühl wird verdeckt durch die Ängstlichkeit der Opportunisten. Für beide Gefühle, die doch gegensätzlicher nicht sein könnten, haben wir nur einunddasselbe Wort. Da wäre Sondierung dringend erforderlich. Daß sie nicht stattfindet, muß wohl Gründe haben. Versuchen wir es trotzdem. Beginnen wir mit einer Aussage von Roland Barthes: “Angst, als mittelmäßiges Gefühl verschrieen und als philosophischer Ladenhüter angesehen, ist nicht individual-psychologisch, sondern spaltungstheoretisch erst verstehbar: als Verweigerung der Transgression – eine Operation am offenen Herzen ohne Narkose, ein Wahnsinn, den man bei vollem Bewußtsein läßt. Durch eine letzte Fatalität bleibt das Subjekt, das Angst hat, immer Subjekt… Sie ist die absolute Heimlichkeit, nicht weil sie uneingestehbar ist (obwohl heute noch niemand bereit ist, sie einzugestehen), sondern da sie das Subjekt spaltet, indem sie es intakt läßt, verfügt sie nur über konforme Signifikanten: die delirierende Sprache wird dem, der sie in sich aufsteigen spürt, verweigert.”
Der von Angst Geplagte sieht sich nicht imstande, sie so zu benennen, daß andere dasselbe darunter verstehen, obwohl er dies dringend möchte. Das macht dem, der Angst hat, Angst. Jedesmal wenn er versucht, sein unabweisbares Gefühl mitzuteilen, erweisen sich die Worte als unbrauchbar. Sie fragen dann z.B. Angst wovor? Oder sie sagen, ich hatte auch mal Angst, aber viel schlimmer, als du dir vorstellen kannst, und ich habe mich nicht so angestellt wie du. Und sie sprechen von Angst im Plural. Sie reden von Ängsten. Die angst, von der Roland Barthes spricht, ist aber von diesen “Ängsten” zu unterscheiden, von denen sich die Psychotherapie-Industrie vampirhaft ernährt. Man sollte angesichts dieser Perversion das wort Angst vielleicht gar nicht mehr verwenden. Man spräche wohl besser in Anlehnung an Freud, der sich mit der Todesangst des Neugeborenen beschäftigte, von Perturbation.
Die konformen Signifikanten sagen, wie in Kästners “Emil und die Detektive” Gustav mit der Hupe zu sagen pflegt: halb so schlimm, während es in Wahrheit subjektiv viel schlimmer ist, als man sagen darf. Schlimmer in dreierlei Hinsicht: Man will erstens nicht in einen Wettstreit um das höchste Maß an erfahrener Angst treten. Da die einzige Linderung in der Gesellschaft anderer Menschen besteht, dürfen diese zweitens nicht abgeschreckt werden. Der an Angst leidende weiß instinktiv: Wenn sie wüßten, daß ich sie wegen der Angst brauche, würden sie sich entfernen. Die anderen fühlten sich austauschbar und somit mißbraucht. Die Sehnsucht nach Fürsorge steht im Widerstreit mit der Furcht, sich den Zugang zu anderen zu „verscherzen“. Solange die Angst herrscht, ist man instinktiv bestrebt, sie zu verheimlichen. Die unerträgliche Unruhe läßt sich freilich bei allem Bemühen nicht ganz verbergen. Sie verrät sich u.a. darin, daß der Betroffene nicht die Freiheit hat, die Suche nach Gesellschaft zu unterlassen oder darin wählerisch zu sein. Der von Angst geplagte muß sich also selbst isolieren. Er kann nicht vermeiden, seine Isolation selbst zu betreiben.
Drittens kommt erschwerend hinzu: Die panische und nicht ganz zu verbergende Seite der Unruhe provoziert bei den anderen, daß sie sich für robuster, lebenstüchtiger, reifer und charakterfester halten, weil sie sich in der Lage sehen, auch mal allein zu sein und sich von ihren Wünschen zu distanzieren, wie das bürgerliche Gesetzbuch dies fordert. Sie sprechen dann von Frustrationstoleranz und fühlen sich gut. Angst provoziert, daß die anderen sich gut fühlen, und begründet absolute Einsamkeit.
Über Angst läßt sich nicht kommunizieren. Auch über Angst zu schreiben, verbietet sich. Wenn jemand über sie schreibt, um seine Angst zu mildern oder um keine Angst zu haben, dann schreibt er über Angst, ohne über die Angst zu schreiben. Diese Art der Depotenzierung von Angst durch Schreiben ist vielleicht die ursprünglichste Form der Poesie. Scheherezade ist ihr Prototyp.
Kierkegaard machte die merkwürdige Sprachlosigkeit der Angst selbst zum Thema. Sie steht für ihn in Zusammenhang mit zugespitzter Subjektivität in abstrakter Welt und mit der Verteidigung alles nicht Verallgemeinerungsfähigen als Herausforderung jeder institutionalisierten Macht. Bezogen auf seine Angst, wie auf seinen Schmerz und seinen Glauben wie auf Sünde sei der Einzelne „kein Exemplar seiner Gattung“. Angst existiere immer nur als die meine, la mienne. Wenn ich von ihr rede, kann der andere nicht verstehen, was ich meine, es sei denn er habe dieselbe Angst erlebt wie ich. Angst wird so zum einzigen noch existierenden Ding, das dem falschen Allgemeinen einen Widerpart bietet und die Basis einer Freundschaft sein kann, die auf Verstehen verzichtet wie die Gemeinschaft im Sinne Blanchots oder Nancys. In dem undurchdringlich gewordenen Gespinst der Verblendung im Konsens wird die Bodenlosigkeit der Angst das Einzige, womit man Boden unter die Füße bekommen kann. Auf der Grenze zwischen Psychose und Selbstbehauptung, sowohl das Begleitgeräusch der Psychose, als auch das Fieber der Gegenwehr, wird die Angst zur Rettung am Abgrund, der schlimmste Makel wird zur seltensten und kostbarsten Fähigkeit. Wer von Ängsten im Plural redet, kaschiert seine Angst vor der Angst.
Donnerstag, 30. Dezember 2010