Animalität

 

Wenn Kojève vom „Verschwinden des Menschen am Ende der Geschichte“ spricht, von der Abdankung des Menschen im strengen oder emphatischen Wortsinn, nämlich als des freien geschichtlichen Individuums, dann ist das Mißverständnis, daß das, was danach kommt, nur der animalisch fortvegetierende, gleichgeschaltete glückliche Mensch der negativen Utopie eines Aldous Huxley oder George Orwell sein kann, typisch für unsere Zeit. „Man muß also annehmen, daß nach dem Ende der Geschichte die Menschen ihre Bau- und Kunstwerke so schaffen, wie die Vögel ihre Nester bauen oder wie die Spinnen ihre Netze weben, daß sie Konzerte geben wie die Frösche und die Grillen...“. Das Verschwinden des Menschen bedeutet in seinen Augen auch das der menschlichen Rede, die nichts anderes mehr wäre als eine Abfolge von mimischen stimmlichen Signalen nach Maßgabe bedingter Reflexe, mit der daraus folgenden Aufhebung des Gegensatzes von Subjekt und Objekt.

Diese apokalyptische Schreckensvision ist der politisch korrekte Gebrauch der Tier-Metaphorik. Sie ließe sich stattdessen aber auch lesen als Hinweis auf eine zukünftige Existenz des Menschen, in der kollektivere Lebensformen wieder eine größere Berechtigung hätten, in der die Selbstreflexion wieder der vorgängigen Vergesellschaftung Rechnung trüge, in der sich die Menschen ihrer Vergesellschaftung wieder bewußt wären. Die Metaphorik könnte einer positiven utopischen Vision einer Gesellschaft zur Geltung verhelfen, die nicht etwa zur Horde degeneriert, sondern sich zu solidarischen Lebensformen aufschwingt.

Daß die Menschen sich ihrer vorgängigen Vergesellschaftung heute nicht mehr bewußt sind, daß der Mensch nicht mehr um die wechselseitige Abhängigkeit aller weiß, daß er gegenwärtig für sie blind und taub ist, liegt daran, daß er sich einbildet, die hypothetischen Idealisierungen des Individuums, der Autonomie, des freien Willens seien real und gegeben. Sie seien das eigentlich Humane. Und daß er nicht weiß, daß dieser Irrglaube unter anderem daher rührt, daß ihm die Renditevorgaben der Finanzindustrie im Nacken sitzen. Diesen Druck muß man als erstes wegnehmen. Das wäre der erste Schritt aus der gegenwärtigen Animalität, die für Humanität gehalten wird, hin zu einer wahren Humanität, die wir für Animalität halten.

 

Donnerstag, 30. Dezember 2010

 
 
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