Christen
Christen sind Juden und Antisemiten zugleich. Das zentrale theologische Problem des Christentums ist, ein glaubhaftes Denkmuster dafür zu liefern, wie Jesus, der ein Jude war und nicht die Absicht hatte, dies zu ändern (- ich bin nicht gekommen, um das Gesetz zu ändern, um kein Jota oder kein Komma -), zum Begründer einer neuen Religion werden konnte, so daß die Jünger und deren Nachfolger es als einen von Jesus erteilten Auftrag verstehen konnten (oder diese Intention ihnen nachträglich unterstellt werden konnte), das Christentum als neue und einzig wahre Lehre zu verbreiten, u.z. um jeden Preis. Wenngleich es vor allem anderen dieses Problem ist, das einer Erklärung bedarf, macht die Theologie gerade um diesen Kernpunkt den weitesten Bogen. Man könnte auch sagen: Sie macht diesen weiten Bogen, gerade weil es sich um den crucial point handelt, für den es gar keine Erklärung geben kann. Es ist dürfte daher aufschlußreich sein, auf welche Weise die christliche Lehre sich um diesen Punkt herumdrückt.
Wenn die Christen recht hätten, müßte Jesus sich selbst schon als Messias verstanden haben. Da sich in den Schriften hierfür kein expliziter Hinweis findet, muß er dies als Geheimnis gehütet haben. Was die Theologie „Messiasgeheimnis“ nennt, meint tatsächlich die Unterstellung, Jesus habe seinen Jüngern verboten, ihn als Messias zu verkünden. Und er habe selbst dafür gesorgt, u.a. durch seine Wundertaten, seinem Ansehen als Messias vorzubeugen, weil das für ihn und die Jünger zu gefährlich gewesen wäre.
William Wrede war einer der ersten, die diese Annahme bestritten. Mit seiner radikalen Evangelien-Kritik vertrat er dagegen die Ansicht, daß die Identifizierung Jesu mit dem Messias erst nach seinem Tod erfolgt sein konnte. In der viel beachteten und kontrovers diskutierten Schrift „Das Messiasgeheimnis in den Evangelien“ von 1901 legt er dar, daß die Evangelien ein retrospektives theologisches Konstrukt seien. Nicht Jesus selbst habe sich als Messias bezeichnet, sondern die Urchristen hätten ihn aufgrund ihres Auferstehungsglaubens nachträglich als den Messias verkündet.
Um diesen Makel der Nachträglichkeit zu tilgen, habe der Autor des Markus-Evangeliums das Konzept des Messiasgeheimnisses entwerfen müssen. Die Texte, die Markus vorlagen, schilderten Jesus als Lehrer und Wundertäter, aber nicht als Messias (Mk 3,12). Und er gebot ihnen streng, daß sie ihn nicht offenbar machten (Mk 7,36). Und er gebot ihnen, sie sollten's niemandem sagen. Je mehr er's aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus (Mk 9,9). Als sie aber vom Berge hinabgingen, gebot ihnen Jesus, daß sie niemandem sagen sollten, was sie gesehen hatten, bis der Menschensohn auferstünde von den Toten. Jesu führt seine Wunder oft im Verborgenen aus und will auch nicht, daß davon erzählt wird (Mk 5,43a; 7,36a). Weitere Bibelstellen, die das Schweigegebot enthalten, finden sich in Markus 1,34; 1,44; 3,12; 5,43; 7,36; 8,30; 9,9. Daneben gibt es auch Stellen, in denen Dämonen den Messias erkennen, Jesus sie aber zum schweigen zwingt (Mk 1,25; 1,34; 3,12). Die Jünger verstehen oft nicht, was er ihnen sagt (Mk 4,13;7,18) und wer er eigentlich ist (Mk 4,40f;6,52). Auch bei Matthäus (Mt 16,20) finden wir entsprechende Stellen: Da gebot er seinen Jüngern, niemandem zu sagen, daß er der Christus sei (Mt 17,9). Und als sie vom Berge hinabgingen, gebot ihnen Jesus und sprach: Ihr sollt von dieser Erscheinung niemandem sagen, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden ist. Ebenso bei Lukas (Lk 9,21): Er aber gebot ihnen, daß sie das niemandem sagen sollten.
Die Geheimhaltung durch die verschworene Gemeinschaft der Jünger könnte im Interesse Jesu gelegen haben, weil es ratsam gewesen sein mag, die römische Besatzungsmacht nicht zu provozieren. Aber das Messiasgeheimnis steht in einem Argumentationszusammenhang, der aus dem Juden den Gründer der christlichen Kirche werden läßt. Dazu mußte das Christentum als etwas profiliert werden, das sich vom Judentum unterscheidet und die Juden zum Feindbild erklärt. Die Quelle dieses systematischen Antisemitismus bildet die um 190 verfaßte Predigt zum Passahfest von Melito, Bischof von Sardis (in der kleinasiatischen Provinz Lydia), in der dieser von Jesus als vom ermordeten Gott sprach, vom Gehängten, der am Baum verflucht ist: „Wäre dieser Mord im Dunkel der Nacht verübt worden, oder wäre er in der Wüste geschehen, es wäre das Beste gewesen, stillschweigend darüber hinwegzugehen, Stillschweigen zu bewahren. Doch es geschah mitten auf der Hauptstraße, sogar im Zentrum der Stadt, wo alle den ungerechten Mord ansahen... Wer war er? Es ist schmerzhaft zu sagen, wer der Gehängte sei, aber es ist noch schmerzhafter, es nicht zu sagen... Er, der die Erde im Raum aufhängte. Er, der den Himmel festnagelte, wurde selbst an an den Baum genagelt. Der Herr ist beleidigt und geschmäht worden. Gott ist ermordet worden. Der König von Israel ist vernichtet worden durch die rechte Hand Israels“. (94-97)
Obwohl Melito die vermessene Blindheit als eine der Menschheit insgesamt bezeichnete, die er einteilte in die reuigen und die nicht bereuenden, sah man im Vorwurf des Gottesmordes die Vorstellung formuliert, daß die Juden ihren eigenen Gott ermordeten. Um zu erkennen, wessen die Juden sich schuldig gemacht haben, müsse man nur die Bibel lesen: "Wenn du das Mysterium des Herrn sehen möchtest, lies über Abel, der ebenso ermodet wurde, über Isaac, der ebenso gebunden ward..." das Alte Testament, in dessen Namen man Jesus ermordete, liefert selbst das Modell für die schuldhafte Blindheit.
Der schändliche Mord, der in der Menschheit einen so ungeheuren Widerhall finden sollte, wird in seiner Paradoxie herausgestellt, die darin liegt, daß das jüdische Volk nicht nur unschuldiges Blut vergoss, sondern seinen eigenen König lyncht, schlimmer noch, seinen eigenen Schöpfer. Normalerweise würde bei einer Bedrohung des Königs ein Krieg losbrechen gegen die Feinde. Aber ihr ehrtet die Feinde und ermutigt sie zum Mord am eigenen König, ja batet sie darum. Und damit nicht genug. Bei dem, der der Welt das Licht brachte, bedankt ihr euch, indem ihr ihm das Dunkel des Todes schickt. Ihr tötetet den, der euch leben machte. Und ihr gabt dem Essig und Galle zu trinken, aus dessen Mund der Atem kam, mit dem er euch Leben einhauchte. Ihr bandet die Hände, die die Erde schufen und die euch aus Erde formten. Und ihr tötetet ihn an dem ihm zu Ehren festgesetzten Festtag. Er mußte leiden, es war notwendig, daß er beleidigt und gedemütigt wurde, aber doch nicht durch euch, die ihr es besser hättet wissen müssen. Er mußte gekreuzigt werden, aber doch nicht durch meine eigenen Hände, und wenn dann nicht durch meine rechte Hand.
Diese Predigt war als Gründungstext des Antisemitismus überaus erfolgreich, obwohl es sich um einen Wahn handelt, da das jüdische Volk sich erstens gar nicht gegen Jesus entscheiden konnte, weil zweitens der Königsanspruch oder Messiascharakter diesem Gefangenen erst lange nach dessen Tod beigelegt wurde.
Alle drei kanonisierten Evangelien konstruieren eine Szene, in der Pilatus der Volksmenge die Möglichkeit bietet, von zwei zum Tode verurteilten Gefangenen einem das Leben zu retten. Das Vorgehen des Pilatus hat mit Großmut nichts zu tun. Pilatus erweist sich auch nicht bloß als entscheidungsschwach und feige. Seine Wendung an das Volk ist zutiefst pervers. Dies aufzudecken, ist ein Übersetzungproblem. Für Matthäus ist Barabbas ein besonderer Gefangener. Das griechische Adjektiv »episeemos«, das in der Lutherübersetzung mit »berüchtigt« wiedergegeben wird, kann auch einfach »besonders« oder »bekannt« heißen. In diesem Sinne ließe sich auch von Jesus von Nazareth sagen, daß er kein gewöhnlicher Gefangener, sondern episeemos war. Bei Markus und bei Lukas wird ebenfalls nicht deutlich, was dieser Barabbas eigentlich verbrochen hat. Bei Markus ist er zusammen mit »den Aufständischen« gefangen worden, die bei »dem Aufstand« einen Mord begangen hatten. Es dürfte sich damit um einen Zeloten gehandelt haben. Johannes bezeichnet Barabbas als einen »Räuber« (18,40) – was als Bezeichnung für einen aufständischen Zeloten gemeint sein könnte. Aber Matthäus kannte das Johannes-Evangelium nicht.
Halten wir uns also an Matthäus. Bei ihm heißt es: Sie hatten aber zu der Zeit einen besonderen Gefangenen, der hieß (legomenon, von legomenos) Jesus Barabbas. Und als sie versammelt waren, sprach Pilatus zu ihnen: Welchen wollt ihr? Wen soll ich euch losgeben, Jesus Barabbas oder Jesus, der Christus genannt wird? Denn er wußte, daß sie ihn aus Neid überantwortet hatten. Was soll ich denn machen mit Jesus, der Christus genannt wird? Sie sprachen alle: Laß ihn kreuzigen! Das Volk entscheidet sich vor Pilatus nicht gegen Jesus, weil es sich gar nicht gegen Jesus entscheiden kann. Es kann nur darüber entscheiden, in welcher Gestalt Jesus gegenwärtig ist. Der »sogenannte« Barabbas und der »sogenannte« König der Juden verkörpern zwei unterschiedliche Möglichkeiten, was im Laufe der Geschichte aus Jesus werden kann.
Auch für Für Markus ist Barabbas eine Art Doppelgänger des Messias. Steht Jesu Einzug in Jerusalem auf einem Esel für die Friedensverheißung des Messias, so steht Barabbas für das Ausharren des Messias in der Mitte eines Volkes, auch und gerade, als das Volk in den großen Aufstand gegen das römische Imperium hineingerät. Und in solcher Treue erweist sich, wer Jesus ist: »Bar Abbas«, oder auf deutsch: der »Sohn des Vaters. Während der Gefangene, zu dem sich das Volk bekennt, von Markus Barabbas genannt wird, nennt Matthäus ihn eben: Jesus Barabbas. Entsprechend fragt Pilatus in V. 22 das Volk, was denn mit jenem Jesus geschehen solle, der Christus genannt werde. Somit weicht Matthäus zwar in der Gestaltungsweise von Markus ab, im Resultat trifft er sich aber wieder mit ihm: Die Vorstellung einer Verwerfung Jesu durch Israel wird mit allem Nachdruck ausgeschlossen, so etwas wäre gar nicht möglich gewesen. Die einzige Wahl, die das Volk vor Pilatus hatte, war die zwischen Jesus Christus und Jesus Barabbas, zwischen Jesus als Friedensmessias und Jesus als leidendem Gottesknecht.
Jesus propagierte ein ermäßigtes Judentum für die ganze Welt, statt eines elitären Judentums für ein auserwähltes Volk. Diese Idee war eine Spielart der jüdischen Missionsbewegung während der Zeit der römischen Besatzung, die zum Ziel hatte, das Judentum in der Welt zu verbreiten und nicht länger auf den exklusiven Kreis der geborenen Juden beschränkt bleiben zu lassen. Als diese Idee besonders viele Anhänger fand, fragte man sich als Jude, wozu gibt es die Juden in ihrem exklusiven Verständnis noch? Sie täten gut daran, sich uns anzuschließen. Als man später die Macht dazu hatte, die sich weiterhin exklusiv verstehenden Juden zu zwingen, sich den sich als universal verstehenden Juden anzuschließen, wurde genau dies auf der Synode von Jania beschlossen.
Das reformierte Judentum blieb nach dem Vorbild der Jesusbewegung eine Variante innerhalb des Judentums. Ob man sich nun Juden oder Christen nannte, war zunächst unerheblich. Bis ins 4. Jh gab es Christen, die sowohl in die Synagoge als auch in die Kirche gingen, das war für sie kein relevanter Unterschied und auch kein Problem. Johannes Chrysostomos hielt es sogar für angebracht, die Grenzen wieder niederzureißen, die man inzwischen aufzurichten versuchte. Zu seiner Zeit war die sich verbreitende allgemeine Verärgerung über die Menin, die Häretiker, aber inzwischen stärker geworden. Aus den missionierenden Juden waren Christen geworden.
Nun begann man auch, das jüdische Schriftgut mit dem des Neuen Testaments zu verzahnen auf eine Weise, die nahelegt, daß Jesus vorhergesagt worden sei. Jesus sei bei Jesaja bereits vorhergesagt worden. Auch er wurde geschoren wie ein Lamm, und auch er sollte wie ein Schaf geopfert werden. So konnte er, dieser Lektüre Jesaias zufolge, als Modell für den Typus Christi fungieren. So heißt es bei Jesaia: Isaak hielt wie Jesus still wie ein Widder, und wie ein Schaf ließ er sich zur Schlachtbank führen. (Jesaia 52:14) Ähnlich wie Johannes sprach auch Melito von Sardis in seiner Pasha-Rede (4 27-32).
erfolgreich waren beide deshalb, weil das, was sie angestoßen hatten, solche Dimensionen annahm, daß sich das, was fortan Christentum genannt werden sollte, dem integralen Judentum gegenüber verselbständigte. Jesus ist, ohne es zu ahnen, im Laufe der Geschichte zum Initiator einer vom Judentum unabhängigen Religion geworden. Gekommen ist eine Institution, die wie das Judentum weiterhin das Reich Gottes erwartet, es aber bereits auf Erden installiert findet, auf eine Weise, die dazu zwingt, diese Anlage zu realisieren, also in einer merkwürdig virtuellen Mischung aus Möglichkeit und Realität. Das Christentum bedarf der Kirche, um die Bündelung der Kräfte auf diese Vervollkommnung zu gewährleisten. Mit der Kirche und durch sie hat das Himmelreich begonnen, sich selbst zu verwirklichen. Die christliche Theologie hat damit ein Denkmodell entwickelt, dessen sich auch die Aufklärung bedienen sollte.
Die Entwicklung des Christentums als neue Faktizität bedurfte der rückwärtigen Begründung im Alten. Der Keim des Neuen mußte in der alten Welt und im geltenden Denksystem und Glauben bereits angelegt gewesen gesehen werden. Eine besondere Klasse von Symbolen und Narrativen mußte hierfür erfunden werden: die „Wachstumsgleichnisse“. Hierzu gehören das vom verborgenen Wachsen der Saat (4,26-29 EU), oder vom Senfkorn, aus dem eine große Pflanze wird (4,30-32 EU). Sie sprechen einerseits davon, daß das Gottesreich in die Gegenwart Jesu und seiner Adressaten reicht, daß es andererseits eine künftige Größe ist. Beide Aspekte sind in der Botschaft Jesu verzahnt: das Reich Gottes ist bereits gegeben, und es drängt auf Vollendung. Im Zentrum dieser Metaphernproduktion steht der „Baum des Lebens“ (22,2 EU). Seit dem 5. Jahrhundert und das ganze Mittelalter hindurch ist die Deutung des Kreuzes Jesu (lat. lignum crucis, „Holz des Kreuzes“) als Lebensbaum (lat. lignum vitae, „Holz des Lebens“) ikonographisch belegt. Dem todbringenden Baum der Erkenntnis („Baum des Todes“) wird im Sinne der Typologie das Leben spendende Kreuz gegenübergestellt, z. B. in Form eines Ast- oder Baumkreuzes, von dem Zweige, Blüten, Blätter, Früchte oder Ranken ausgehen. Der Lebensbaum befindet sich in der Mitte des verlorenen Paradieses, wo laut Genesis auch die Paradiesströme entspringen, und dieser wird als eucharistisches Symbol auf Christus bezogen. Weiter kennen wir die Parabeln vom Sämann und der Saat, die Metaphern des „Wassers des Lebens“, des Unkrauts sowie des Senfkorns, des Sauerteigs, des verborgenen Schatzes, der kostbaren Perle und des Fischernetzes.
Jesus war nicht angetreten, eine neue Religion zu gründen. Dennoch hat er dies bewerkstelligt. Er wollte mit ein paar Freunden den Glauben Israels reformieren. Mit diesem Vorhaben ist er gescheitert. Erfolgreich wurde er in einem Sinne, den er nicht intendiert hatte und auch gar hätte intendieren können. Die Theologie hat das unlösbare Problem, eine Religion zu begründen, deren Begründer ihr nicht angehörte, auf beispiellos erfolgreiche Weise ungelöst gelassen. Sie zeigt dabei eine Reihe von Denkkunststücken der Selbstüberlistung und Schizophrenie, die ihresgleichen suchen.
Donnerstag, 30. Dezember 2010