Coagulation

 

Jeder hat wohl schon einmal erlebt, daß die Sprache nicht so will wie man selber, daß sie Sinn und Kommunikabilität verweigert. Man sagt dann von ihr, wie man von einem bockigen Kind spricht, daß sie verstockt sei. Das Bild ist der Lebensmittelkunde entlehnt, der gestockten Milch, der Dickmilch. Ihr wissenschaftliches Pendant findet sich in dem chemischen Begriff der Koagulation, der vor allem in der Medizin Anwendung findet. Die Hämostase (von griech hämat=Blut und stasis=Stasis, „Stauung“, „Stockung“, „Stillstand“; auch: Blutstillung, Stypsis) ist ein lebenswichtiger Prozess, der die bei Verletzungen der Blutgefäße entstehenden Blutungen zum Stehen bringt. Dadurch wird der übermäßige Austritt von Blut aus dem Blutkreislauf verhindert und die Voraussetzung für eine Wundheilung geschaffen. Die Reaktion des Körpers auf eine Wunde dient, unterstützt durch eine lokal erhöhte Konzentration von weißen Blutkörperchen, auch ihrem Verschluß als möglichem Einfallstor für Krankheitserreger.

Der Sprachgebrauch außerhalb des Bereiches der angewandten Chemie, vor allen in der Literaturgeschichte, gibt freilich Rätsel auf. Am bekanntesten ist sicher der Bericht über ein milchiges oder stockendes Meer nahe der Antarktis, von dem E.A. Poe am Ende der Abenteuer des Edward Gordon Pym berichtet und mit dem diese Erzählung endet, weil das Schiff und mit ihm der Erzähler von diesem Gelee verschlungen werden. Jenes mare coagulatum ist bereits aus apokalyptischen Schriften bekannt, wie aus dem Bericht über die Pilgerreise des Mönches Brennan nach Irland. (Navigatio fabulosa sancti Brendani ad terram repromissionis, scripta est ab ignoto irlandico circa annum 900. Sanctus Brendanus, abbas monasterii Conflertensis, obiit anno 577) Erwähnung findet das Phänomen der Koagulation des Meeres auch in einer der ersten kosmographischen Schriften nach der Antike, in der aus dem 11. Jh. stammenden altdeutschen Dichtung „Marigarto“. Dort ist von einem Händler die Rede, der nach Irland reiste und von einer Libersee berichtet. (Liver-sea), von einer seltsam gefährlich coagulierten See, in der die Schiffe zur Bewegungslosigkeit verdammt waren. Interpreten brachten das grauenerregende Phänomen mit der Nähe zum Polarmeer in Verbindung. Andere sahen darin eine Allusion an die Sargasso-See und deuteten die „Milch“ als das Sperma der leichenden Aale, auch wenn das „Image du monde“ von Walter von Metz diese westlich von Afrika beobachtet haben will. Auch stellte man Verbindungen her zum legendären Magnetberg, von dem vorher schon in den Schriften des irischen Klerikers Dicuil die Rede war, sowie in denen des Isidore von Sevilla und in den Athanasius Kirchers, dessen legendäre Topographie im Simplicissimus wieder auftaucht. Auch in dem lateinischen Text von Adam von Bremen (zw 1073 und 1080) findet sich das Wort Libersee, in Deutsch geschrieben, zweifellos weil es kein lateinisches Äquivalent gab.

Der Effekt, der sich beim Stocken des Blutes oder der Milch einstellt, wird in dem Naturereignis, von dem die genannten Schriften berichten, auf die Konsistenz des Meerwassers übertragen. Die Frage ist, ob damit eine Parallele zu der körpereigenen Schutzvorrichtung und Gegenmaßnahme gegen Verletzungen, die sich unabhängig und unbeeinflußbar von dem Willen des Individuums in seinem Organismus vollzieht, oder auch zum die Milch konservierenden Stocken hergestellt werden soll, oder ob lediglich die Evokation des Grauens bezweckt ist. Edward Gordon Pym befand sich mit einigen Gefährten in einem Kanu nahe der Antarktis. In der Übersetzung Wollschlägers heißt es:

„Eine graue, zunehmend weiße Dampfwand erhob sich und stand von nun an permanent am südlichen Horizont, und die Temperatur des Wassers nahm beständig zu, und obwohl oberflächlich ruhig, wurde es von Zeit zu Zeit von Unterwasserbewegungen erschüttert. Die Hitze des Wassers war nunmehr wirklich bemerkenswert, und die Veränderung seiner Farbe ging rapide vor sich, so daß es nicht länger durchscheinend war, vielmehr von milchiger Konsistenz und Tönung... der Wind war gänzlich eingeschlafen, dennoch war unverkennbar, daß wir still nach Süden geflößt wurden, unter dem Einfluß einer kraftvollen Strömung. Und nun wär es doch in der Tat räsonabel erschienen, wenn wir ein wenig Unruhe verspürt hätten, ob der Wendung, welche die Dinge nahmen, aber wir verspürten keine... Ich empfand eine Dumpfheit an Leib und Gemüt -  eine Traumhaftigkeit der Sinne – aber das war auch alles... Von der Dampfwand herkommend fiel nun fortwährend eine Art Ascheregen nieder... Die Dampfwand im Süden hatte sich ungeheuerlich am Horizont aufgerichtet und begonnen, mehr Bestimmtheit der Form anzunehmen. Ich kann sie mit nichts vergleichen, als mit einem grenzenlosen Katarakt, der lautlos von einer riesigen und weit entfernten Rampe im Himmel in die See herabrollt. Eine mürrische Düsternis schwebte jetzt über uns  - aber aus den milchigen Tiefen des Ozeans stieg es wie glimmlich auf und stahl sich der Bordwand des Bootes entlang nach oben. Der Dampfvorhang erstreckte sich über die ganze Breite des Horizonts.... Und offensichtlich gings auf ihn zu mit grausiger Behendigkeit. Zu Zeiten, doch momentan nur, wurden weite gaffende Spalten darin sichtbar; und aus diesen Spalten, in denen ein Chaos unscharfer Imagines flatterhaftete, kamen stürmisch und mächtig doch lautlos die Winde, und furchten den erleuchteten Ozean in ihrem Lauf. ...Und nun rauschten wir in die Umarmungen des Kataraktes, wo just ein Kamm sich auftat, uns zu empfangen. Da aber erhob sich in unsrem Pfade eine verhüllte menschliche Gestalt, sehr viel größer an Glied-Maßen, als sonst ein unter Menschen je Hausender. Und die Tönung der Haut der Gestalt war von der völligen Weißnis des Schnees - .“

Der Autor läßt seinen Ich-Erzähler am Ende in das Verderben hineinsegeln und für immer spurlos verschwinden. Der Tagebuchautor, dem wir diesen Bericht verdanken, obwohl er sicherlich mit dem Schiff untergegangen sein dürfte, sieht sich zusammen mit der Mannschaft und dem Kapitän dem unerklärlichen Vorgang hilflos ausgeliefert. Niemand macht Anstalten, sich vor dem Grauen in Sicherheit zu bringen, es wäre auch gar nicht möglich, ihm zu entkommen. Trotz des kolportagehaften, abenteuerromanhaften Sprachstils spricht diese Passage dafür, daß für Poe wie u.a. auch für Melville und Hawthorne, die Verknüpfung von totaler Ohnmacht mit nicht mehr steigerbarem Grauen ein drängendes Thema seiner Erzählungen ist und dieses die Situation und Motivation des Schreibenden reflektiert.

So bietet es sich an, diese Passage mit Hugo von Hofmannsthals Lord-Chandos-Brief zu vergleichen. In diesem Brief, den der fiktive Lord Philipp Chandos an seinen Mentor Francis Bacon richtet, schreibt der junge Poet, der auf ein hoch gelobtes Frühwerk zurückblicken kann; daß er nun, nach „zweijährigem Stillschweigen“, bezweifle, noch derselbe zu sein wie der Verfasser seiner Gedichte. Er spricht von einem „brückenlosen Abgrund“, der ihn von seinen Dichtungen trenne, „und die ich, so fremd sprechen sie mich an, mein Eigentum zu nennen zögere.“ „Mein Fall ist in Kürze dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. (...) Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte 'Geist', 'Seele' oder 'Körper' nur auszusprechen“, denn „die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze“.

Es gelingt ihm nicht mehr, sich zu einfachsten Gegenständen zu äußern; er flieht vor der Gesellschaft. „Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem (...) Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen (...). Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich“. Es gelingt Chandos nicht mehr, die Welt durch Sprache zu ordnen. Die Wörter werden ihm zu „Wirbeln“, „in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt“. Die Empfindungen dagegen werden ihm um so größer, erhabener, ergreifender.

Kein Wort hat mehr die Fähigkeit, die „sanft und jäh steigende Flut göttlichen Gefühles“ zu erfassen und in den Griff zu bekommen. Das „Fluidum“ oder „Hinüberfließen“ der Empfindung zum Objekt der Empfindung löst auch die Grenzen des Subjektes auf. Subjekt und Sprache waren eine Einheit; nun sind sie in der Auflösung begriffen. Der Sprachlosigkeit folgt die innere Leere; die „Gleichgültigkeit“. Denn die heftige Empfindung muß stumm bleiben: „Das Ganze ist eine Art fieberisches Denken, aber Denken in einem Material, das unmittelbarer, flüssiger, glühender ist als Worte. Es sind gleichfalls Wirbel, aber solche, die nicht wie die Wirbel der Sprache ins Bodenlose zu führen scheinen, sondern irgendwie in mich selber und in den tiefsten Schoß des Friedens.“ Die Konsequenz für Chandos ist, das Schreiben ganz aufzugeben.

Eine ähnliche Erfahrung mag in der Passage aus Canettis „Die Stimmen von Marrakesch“ anklingen: „Ich versuche, etwas zu berichten, und sobald ich verstumme, merke ich, daß ich noch gar nichts gesagt habe. Eine wunderbare leuchtende schwerflüssige Substanz bleibt in mir zurück und spottet der Worte. Ist es die Sprache, die ich dort nicht verstand, und die ich nun allmählich in mir übersetzen muß? Da waren Ereignisse, Bilder, Laute, deren Sinn erst in einem entsteht; die durch Worte weder aufgenommen noch beschnitten wurden; die jenseits von Worten, tiefer und mehrdeutiger sind als diese.“ Die sich dem Erzähler entziehende, ihm ihren Dienst verweigernde Sprache geriert sich wie präödipales Gelee.

Diese Szene tritt in Korrespondenz zu einer anderen, der Canetti alptraumhaft den Ton abgedreht hat: Ein Lokal, in dem alle verstummt sind. Die Gäste sitzen stumm, allein oder in Gruppen, und nehmen ihre Getränke zu sich. Die Kellnerin hält einem stumm eine Liste vor, man zeigt auf eine Stelle, sie nicht, bringt einem, was man sich wünscht und stellt es stumm auf den Tisch. Alle betrachten einander wortlos. Die Luft des Raumes, in dem nicht gesprochen wird, stockt. Alles ist wie von Glas. Die Menschen wirken zerbrechlicher als die Gegenstände. Es zeigt sich, daß Worte den Bewegungen ihre Flüssigkeit geben, ohne Worte ist alles starr. Blicke werden unheimlich und unverständlich. Es ist möglich, daß nichts als Haß gedacht wird. Einer steht auf. Was wird er tun? Alles erschrickt. Ein Kind, wie gemalt, öfnet weit den Mund, aber es ertönt kein Schrei. Die Eltern sagen nichts und klappen ihm den Mund zu. Das Licht geht aus, man hört ein Klirren. Es geht wieder an, doch niemand ist zerbrochen. Es wird in Münzen gezahlt, die so zutraulich sind wie kleine Tiere. Eine Katze springt auf den Tisch und beherrscht das Lokal. Sie ist nie verstummt, denn sie hat schon immer geschwiegen. Nun belebt sich der Ort mit Toten. (Aufzeichnungen, S. 247f.)

Wo sich einem die Sprache entzieht, weil sie unversehens nicht mehr transparent ist, weil die Worte nicht mehr zur Klärung und damit zur Ordnung und zum Sicherheitsgefühl beitragen, da breitet sich das Grauen aus. Wir bringen von Natur aus etwas mit, das sich mit dem Sinnentzug unmittelbar in die entstandene Leere hinein verströmt. Wohl keine Metaphorik vermöchte verstörender nicht nur zu illustrieren, sondern unmittelbar körperlich fühlbar machen, wie es einem ergeht, dem man oder sich die Zeugenschaft und das Wiedererkennen im anderen verweigert. Sie tritt in Korrespondenz mit dem Lebendig-Eingemauertwerden der Antigone und mit der religionsgeschichtlich vermittelten Erfahrung des heiligen Rochus, der den Pestkranken in den Kriechverliesen der venezianischen Quarantäne-Stationen half, wie man in den Malereien in der Scuola di San Rocco sehen kann, und sich infizierte. Von der Pest gezeichnet und abgerissen wie ein Penner, als ein Ausgestoßener, kehrt er zu seiner Familie zurück, aber die erkennt ihn nicht mehr. Das Verbotene an dieser Metaphorik ist die einsame Erkenntnis, daß das, was den Einzelnen aussperrt, genau das ist, was nach unbelehrbarer Überzeugung aller anderen dazu da ist, ihm Schutz bieten.

 

Donnerstag, 30. Dezember 2010

 
 
Erstellt auf einem Mac

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