Conatus

 

Nach der Auffassung Spinozas wohnt jedem Körper ein Streben (conatus) inne, seine Kräfte möglichst vollständig einzusetzen. Liegt keine angemessene Idee vor, werden die Kräfte eben nur soweit eingesetzt, wie es die unangemessenen Ideen zulassen. Sie sind dann nur nach Maßgabe einer unangemessenen Idee ausgeschöpft. Im Falle, daß eine angemessene Idee vorliegt, können die Kräfte der Person hingegen weitaus bessere Resultate erzielen.

Das Spinozistische Konzept stellt sich als Erkenntnistheorie gegen die Kants. Bei Kant erweist sich in der Übereinstimmung der Dinge mit den Ideen deren Richtigkeit. Spinoza setzt Kants epistemologischem Wahrheitsbegriff einen hedonistischen entgegen. Wenn bei Kant die Übereinstimmung einer Vorstellung mit einer Idee Aufschluß über deren Wahrheit oder Untriftigkeit gibt, soll bei Spinoza das die Vorstellung begleitende Gefühl Aufschluß geben über Angemessenheit oder Unangemessenheit einer Vorstellung. Angemessene Ideen liegen dann vor, wenn der Affekt ein freudiger ist. In der Überzahl unangemessener Ideen sieht Spinoza den Grund dafür, daß aktive Affekte in den Handlungen nicht bis zum Äußersten ihrer Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Wären die Ideen hingegen angemessen, würden die Handlungen einer Person ihre Potenzen nach vollem Vermögen zur Geltung bringen. Passive freudige Affekte, die durch eine angemessene Idee ausgelöst werden, schlagen in aktive Affekte um, die immer das Maximum der ihnen zugrunde liegenden Idee als (Handlungs-)Kraft einsetzen.

Die persönliche Handlungsbilanz hat auch eine soziale Dimension. Die in die gleiche Richtung weisende Kraft zweier Körper, von denen ein Gemeinbegriff gebildet wurde, schafft eine Art ‘neuen’, gemeinsamen Körper. Die ethische Frage lautet daher: Wie erreichen wir es, aktive Affekte hervorzubringen? Zunächst aber: Wie erreichen wir es, ein Maximum an freudigen Leidenschaften zu empfinden? Beides gewinnt ein Körper dank des Zusammentreffens mit einem

anderen Körper. Hat dieser andere Körper dieselben Bestrebungen wie meiner, dann

hat er auf mich einen freudige Affekte hervorbringenden Effekt. Ist dies nicht der Fall, wird kollektiv eine unangemessene Idee gebildet. Wenn wir auf einen Körper treffen, der mit unserem übereinstimmt, wenn wir eine passive freudige Affektion empfinden, dann werden wir dazu stimuliert, dann wird unser Körper induziert, eine Idee dessen zu bilden, was jenem Körper und unserem eigenen gemeinsam ist. Wir bilden dann ‘Gemeinbegriffe’ (notio communis), die das zum Ausdruck bringen, was in der Begegnung der beiden Körper als das Gemeinsame sich schon ausgedrückt hat.

der Sinn für das Gemeinsame ist bei Spinoza auf eine Weise gedacht, die der Kants entgegengesetzt ist. Bei Letzterem beruht der sensus communis auf dem Prinzip eines transzendentalen Cogito. Die Regeln sowohl des kognitiven, des moralischen, als auch des ästhetischen Urteils werden in der Vorstellung einer idealen und fiktiven Gemeinschaft erstellt. Bei Spinoza dagegen erfolgt die Bestimmung solcher Vorstellungen jeweils aktuell am konkreten Anderen. Und sie erfolgt nicht rein kognitiv, sondern affektiv, als Gefühl. Alles Denken ist Affekt, mehr oder weniger sublim. Was es bedeuten würde, würde man sich Spinozas Auffassung anschließen, mag man sich gar nicht klarmachen. Kein Wunder, daß er notorisch mißverstanden und geächtet wurde. Man hielt ihn für gefährlich. Seine Gemeinde verurteilte ihn dazu, vor dem Eingang zur Synagoge als Fußabtreter zu dienen.

 

Donnerstag, 30. Dezember 2010

 
 
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