Depression
Nietzsche beschrieb den depressiven Maniker so: „Freilich leidet er heftiger, wenn er leidet; ja, er leidet auch öfter, weil er aus der Erfahrung nicht zu lernen versteht und immer wieder in dieselbe Grube fällt, in die er einmal gefallen. Im Leide ist er dann ebenso unvernünftig wie im Glück, er schreit laut und hat keinen Trost.“ Der Duktus gemahnt an die Sprache der Ökonomen. Ökonomisch gesprochen ist Depression Überfülle von Exit-Kapital, von desillusioniertem Geld, das um seine eigene Endlichkeit bereits weiß und nicht im Hinblick auf die Ewigkeit, sondern stets nur auf kürzeste Frist ein transzendentales Obdach in Unternehmen oder Aktien findet. In den gebremsten Botenstoffströmen im Hirn des Depressiven mag man eine Parallele zu den stockenden Geldströmen der Weltwirtschaft gesehen haben, bis man in der Depression den geheimen Motor der Konjunktur entdeckte. Als Konsumentengruppe mit deutlich ausgeprägtem und stabilem Kaufverhalten rückte die Gruppe der Depressiven ins Visier der Marktforschung. Unzufriedenheit sei der beste Anreiz zum Geldausgeben. Zum Ausgleich ihrer Entscheidungsschwäche entwickeln Depressive anhaltende Markentreue. Besonders im Wechsel mit manischen Phasen, in denen man zur Geldverschwendung neigt, wird der Depressive zum idealen Verbraucher. Wenn Axel Zerdick im Depressiven den heute einzig noch möglichen Verweigerungstypus erblickte, von dem er mutmaßt, daß er uns Lebensqualität vorlebt, die heute vielleicht darin besteht, sich in Unerreichbarkeit zu üben und im Abbau von Interaktivität, hängt er darum noch der alten Theorie der Zirkulationsverstopfung an. Selbst wenn man den Depressiven zur Kühlerfigur der Autofirmnen machen würde, die sich in dramatischen Rückrufaktionen für die schönen Produkte verausgaben, ist die alte Theorie nicht mehr zu retten und der Siegeszug der neuen Theorie, derzufolge der Depressive an die Wunschmaschinen der Konsumindustrie angeschlossen ist, nicht mehr aufzuhalten. Nur so wird die Energie und Entschlossenheit erklärlich, mit der die Depression als einzig noch erlaubte psychopathologische Störung inthronisiert worden ist. Nur durch den Verweis auf gesellschaftliche Notwendigkeiten läßt sich die Bilderbuchkarriere eines erfundenen Krankheitsbildes zur einzig politisch korrekten Psychopathologie begreifen.
Angesichts einer derart großen Bedeutung für das Überleben des Kapitalismus dürfte es sich lohnen, die Genese der Depression zu studieren. In einem jüngst erschienenen und von der Fachwelt einhellig gerühmten Buch von Alain Ehrenberg mit dem Titel “Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart”, mit einem Vorwort von Axel Honneth, wird die Entwicklungsgeschichte der Depression nachgezeichnet. Dieser Historiographie zufolge habe die Depression die Hysterie als Schlüsseldefekt abgelöst. “Die Depressiven scheinen von einem Leiden befallen zu sein, das ebenso wenig greifbar ist wie ein Jahrhundert zuvor die Hysterie” Das Buch liefert auch die Ursprungserzählung der Depression. Hier wird berichtet, daß das, was wir unter Depression verstehen, davon bestimmt ist, daß ein versuchsweise eingesetztes Medikament bei dem Bemühen um die Aufhellung der Stimmung erfolge zeitigte. Das, was jenes Medikament minderte, nannte man Depression. Der Erfolg des Heilmittels definierte die Krankheit. Diese Zuschreibungsprozedur bewirkte, daß aus einer Begleiterscheinung unterschiedlicher Beschwerden und Phänomene wie Angst, Unruhe, Irritation usw. eine Krankheit werden konnte.
Heute weiß jeder, was der Begriff Depression bedeutet. “u.z. dank eines außerordentlich berühmten Medikaments: Prozac.” Die Behandelbarkeit oder die Illusion der Behandelbarkeit von etwas, das wir nicht genau kennen, wird zur Feststellung, daß es eine Krankheit gibt, die zunächst nur “Durch-Prozac-Behandelbar” heißen dürfte. “Damit ein Medikament so gut den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen kann, mußte die Depression einen zentralen Ort in unserer Gesellschaft erringen”. Die Erfindung dieser Krankheit muß notwendig gewesen sein.
Das Bewußtsein des Charakters als Erfindung eines am Pillenverkauf interessierten Konzerns geht dann in der Folge verloren. Auch vom Autor des Buches wird dieses Vergessen vollzogen und in der Folge nicht mehr reflektiert. Aus der Zuschreibung Depression ist von einem Satz auf den nächsten eine Krankheit geworden, die nun fraglos tatsächlich existiert. Depression gilt nun als der Name einer Krankheit, die an unterschiedlichen Symptome erkennbar ist wie Angstzuständen, Schlaflosigkeit, Antriebsarmut, Miderwertigkeitsgefühlen. Jedes dieser Einzelsymptome könnte gnausogut das Wesen einer speziellen Krankheit charakterisieren und als ihr Name fungieren. Doch wenn man z.B. Angst als Hauptsymptom auswählen würde, dann wäre eine ganz andere Medikation oder Therapie angezeigt, denn diese wird durch Prozac nicht in signifikantem Maße gemildert oder gar geheilt. Lediglich ein nagendes Gefühl der Wertlosigkeit und Lebensunfähigkeit wird gedämpft und mag so bewirken, daß die suizidalen Neigungen eingeschläfert und die Auslöser und die möglichen Ursachen verschleiert werden. Daß das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit aus der Wahrnehmung des fahrigen Verhaltens durch die Mitmenschen resultieren könnte und somit sekundär und dialogischen Charakters wäre, wird nicht in Betracht gezogen. Ebensowenig wird reflektiert, daß die Bündelung unterschiedlicher Symptome und Beschwerden unter einem bestimmten Hauptaspekt unter dem Diktat des Funktionierens des Menschen als Arbeitskraft geschieht. Die oberflächliche medikamentöse Behandlung der sich hinter den vielfältigen und heterogenen Symptomen verbergenden psychischen Problematik muß den Zweck erfüllen, denjenigen so schnell wie möglich dem Arbeitsprozeß wieder zuzuführen. Dafür ist kein Preis zu hoch.
Die Frage, warum die Gesellschaft dieses Medikament und die Benennung der von ihr gelinderten Symptomatik braucht, wird verkürzt zu der Annahme einer sozialen Entwicklung, die als gesellschaftliche Grundlage dafür angesehen werden könne, daß diese Krankheit in der Gegenwart so häufig anzutreffen ist, weshalb ihr massenhaftes Auftreten also nicht verwunderlich sei. Als Ursache wird der Umstand ausgemacht, daß “das disziplinarische Modell der Verhaltenssteuerung, das autoritär und verbietend den sozialen Klassen und den beiden Geschlechtern ihre Rollen zuwies, zugunsten einer Norm aufgegeben wird, die jeden zu persönlicher Initiative auffordert, ihn dazu verpflichtet, er selbst zu werden.” Die Gesellschaft, so wird konstatiert, räume den Individuen heute mehr Freiheiten ein als früher, und seltsamerweise seien viele Individuen nicht willens oder nicht in der Lage, diese Angebote zu nutzen. Der Nutzen dieser Argumentation ist der, daß man nun die Kranken so hinstellen kann, als würden sie an ihrer Erkrankung selber schuld tragen, weil sie nicht frei sein wollen.
Die Gesellschaft bietet dem Einzelnen die Freiheit, selber über sein Schicksal zu entscheiden. Das Buch will “zeigen, daß die Depression die genaue Umkehrung dieser Konstellation ist. Sie ist eine Krankheit der Verantwortlichkeit, in der ein Gefühl der Minderwertigkeit vorherrscht. Der Depressive ist nicht voll auf der Höhe, er ist erschöpft von der Anstrengung, er selbst werden zu müssen.” Das klingt wie Verständnis für eine verzeihliche Schwäche. Tatsächlich aber dient es der Diffamierung der Betroffenen. Jetzt ist es raus: Die vermeintlich durch jene Krankheit Benachteiligten strengen sich nicht genügend an, sie lassen sich gehen. Sie könnten, wenn sie wollten, aber sie wollen ja nicht. Man bietet ihnen Freiheit, aber sie wollen nicht frei sein. Sie sehnen sich nach den alten autoritären Zeiten zurück, in denen ihnen gesagt wurde, was sie zu tun haben und wo es langeht, mit Prügel und Knute, mit Zucht und Ordnung. Das war ihnen lieber. Und es wäre am besten, wenn man sie dahin zurück brächte. Aber das geht ja leider nicht. Darunter leiden sie, daß das nicht mehr geht.
Wir Soziologen und Psychologen jedoch, wir Nicht-Depressiven, die diese Analyse wagen und uns über die Benachteiligten Gedanken machen, wir genügen dem modernen politischen “Ideal, das aus dem gefügigen Untertan des Fürsten einen autonomen Bürger gemacht hat ... das souveräne Individuum, das nur sich selbst gleich ist”. Freilich wird uns nichts geschenkt. An denen, die dabei depressiv werden, kann man ablesen, wie toll, wie heroisch wir sind, die dabei nicht depressiv werden. Wir haben es ja nicht leichter, wir machen es uns sogar schwerer. So möchten sich all diejenigen gern sehen, die zufällig auf der richtigen Seite standen, als der Strich gezogen wurde zwischen drinnen und draußen, gesund und krank. Es soll so aussehen, daß Normalität und Gesundheit heute besonderer Kraft bedürfen, die nicht jeder aufbringt, weil das mit Entbehrungen verbunden ist. Viele sind einfach zu faul und zu bequem, so viel Energie und Disziplin aufzubringen. Es ist mit der Gesundheit genau wie mit dem Geldverdienen. Wer will, der hat auch Arbeit und der hat auch sein Auskommen. Jeder kann reich werden.
Alle diejenigen, die ihren Arbeitsplatz verlieren und dann von 350,- im Monat leben müssen, sowie all diejenigen, die von dem mit ehrlicher Arbeit verdienten Geld nicht leben können - dafür muß gesorgt sein – müssen als zu schwach erscheinen, um frei zu sein. Die Freiheit macht sie müde, sie erschöpft sie. Sie haben ein „erschöpftes Selbst“. “Die Person wird nicht länger durch eine äußere Ordnung (oder die Konformität mit einem Gesetz) bewegt, sie muß sich auf ihre inneren Antriebe stützen, auf ihre geistigen Fähigkeiten zurückgreifen.” Und eben das schaffen die Entlassenen nicht. Die Depression “ist die Krankheit einer Gesellschaft, deren Verhaltensnorm nicht mehr auf Schuld und Disziplin gründet, sondern auf Verantwortung und Eigeninitiative. Gestern verlangten die sozialen Regeln Konformismen im Denken, wenn nicht Automatismen im Verhalten; heute fordern sie Initiative und mentale Fähigkeiten. Die Depression ist eher eine Krankheit der Unzulänglichkeit als ein schuldhaftes Fehlverhalten, sie gehört mehr ins Reich der Dysfunktion als in das des Gesetzes”. Die Geschichte der Depression ist die “die Geschichte eines unauffindbaren Subjekts”.
“Die Depression ist die Krankheit des Individuums, das sich scheinbar von den Verboten emanzipiert hat, das aber durch die Spannung zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen zerrissen wird. Wenn die Neurose das Drama der Schuld ist, so ist die Depression die Tragödie der Unzulänglichkeit. Sie ist der vertraute Schatten des führungslosen Menschen, der des Projekts, er selbst zu werden, müde ist und der versucht ist, sich bis zum Zwanghaften Produkten oder Verhaltensweisen zu unterwerfen.”
Wir anderen, die wir uns zusammenreißen, wir sind eigentlich diejenigen, die gefährdet sind, und mit uns sollte man Mitleid haben, aber wir trotzen dieser Krankheit, und das obwohl uns niemand bemitleidet und bemuttert. Wir, die wir die Konditionen der modernen Welt aushalten, müßten eigentlich die sein, die depressiv sind; wir sind es, die ein Recht hätten, depressiv zu sein, während diejenigen, die über Depression klagen, nur weinerlich sind, nur simulieren. Das muß immer unterm Strich herauskommen, daß die psychisch Kranken in Wahrheit schwächliche Simulanten sind. Diejenigen, die diese Krankheit haben dürften, haben sie nicht, weil sie sich ja zusammenreißen, und, weil sie viel zuviel zu tun haben, sich eine Krankheit gar nicht leisten könnten, selbst wenn sie wollten. Wer arbeitet, wird nicht krank. Statt sie krankzuschreiben, sollte man sie anhalten, mehr zu arbeiten, dann hätten sie nicht solche Flausen im Kopf. Mit Zwang, denn das wollen sie ja. Unter Zwang fühlen sie sich wohl. Ihre Krankheit ist der Hunger nach Zwang. Sie wären uns dankbar dafür. Depression ist die folgerichtige Krankheit derer, denen man zu Unrecht und voreilig Freiheiten eingeräumt hat und Selbstbestimmungs-Rechte zuerkannt hat.
Im Verhältnis zum Depressiven sind wir wie die Schwestern von Aschenputtel, der in unseren Augen unverdient eine Gunst der Aufmerksamkeit erwiesen wird. Da tragen wir lieber zu kleine Schuhe und holen uns blutige Füße.
Donnerstag, 30. Dezember 2010