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Distanz
Dem Common-sense zufolge als ungehörig oder verrückt eingestufte Verhaltensweisen lassen sich bei genauerer Betrachtung häufig als etwas begreifen, womit die Betroffenen vermittels von Proklamationen der Fremdheit und von Gesten situationeller Verachtung verzweifelt versuchen, Distanz zwischen sich und die nicht gebilligte Einrichtung oder Lage, in der sie sich befinden, zu bringen, wenn sie dieser nicht entfliehen können, auch wenn sie sich damit selber schaden. „Wenn jemand seine Distanz zur Zwangs-Zusammenkunft dadurch bekundet, daß er eine Illustrierte durchblättert oder ein Getränk eingießt, obschon er doch dem Redner zuhören sollte, so riskiert er damit, für flegelhaft zu gelten. Der Verstoß hält ihn jedoch zumindest davon ab, den Raum gänzlich zu verlassen, womit er den anderen ein Angebot macht und der Situation seine Referenz erweist. Wenn es bereits innerhalb von Bindungen, auf die man sich festgelegt hat, riskant ud schwierig sein kann, Distanz zu erobern, so dürfte deutlich werden, daß sich in geschlossenen Einrichtungen Distanz nur noch mit extrem hohen Kosten zum Ausdruck bringen läßt, da die Situation ausweglos ist. “Die rigiden Binnenstrukturen einer Institution, wie der Schule oder der Ehe, oder einer öffentlichen Anstalt, eines Krankenhauses oder eines Asyls, können Auslöser paradoxer Verhaltensweisen sein, die sich bei genauerem Hinsehen als Strategien erkennen lassen, mit der ausweglosen Situation zurechtzukommen“. Wenn der Blick aus dem Fenster während eines Gesprächs noch als unhöfliches Betragen registriert werden mag, so wird es gefährlicher, wenn dieser jemand Grimassen schneidet oder sich Kaffee über den Kopf gießt. Damit riskiert er, für verrückt erklärt zu werden. Und in der Tat bringt er ja zum Ausdruck: „Das macht mich krank“. Kaum jemand begreift, daß diese Art situationeller Selbst-Sabotage einen Faktor in der Gleichung von Selbstverteidigung darstellen kann. So schreibt Goffman: “Es scheint so, als ob der Patient zuweilen spüre, daß das Leben auf der Station derart ungerecht und unmenschlich ist, daß die einzige Reaktion, in der noch Selbstachtung steckt, darin besteht, das Leben hier so zu handhaben, als sei es in verachtenswürdiger Weise jenseits von Realität und Ernsthaftigkeit. Das geschieht, so scheint es, indem ein Ich projiziert wird, das entsprechend verrückt und, soweit es den Handelnden betrifft, offensichtlich nicht sein wirkliches Ich ist. Der Patient demonstriert auf diese Weise, zumindest sich selber, daß sein wahres Ich nicht beurteilt werden darf nach dem gegenwärtigen Rahmen und durch diesen auch nicht gebrochen oder verdorben wurde. Aus demselben Blickwinkel teilt er implizit mit, das Verhalten, das ihn in die Anstalt gebracht habe, sei ebenfalls keine gültige Darstellung seines wahren Ich. Kurz, der Patient kann ausgesprochen verrückt handeln auf der Station, um allen normalen Leuten klarzumachen, daß er offensichtlich gesund sei.“ Man darf freilich auch nicht außer acht lassen, daß „der derart Vorgehende oder sich derart Vergehende damit nicht fertig wird. Er ist weder in der Lage, die anderen zu zwingen, seinen Affront zu akzeptieren, noch sie zu überzeugen, daß andere erklärende Gründe zu akzeptieren seien als die Verrücktheit.“
Distanzierung kann auch in alltäglichen Situationen so existenziell zwingend notwendig werden, daß sie um jeden preis erobert werden muß. „Selbst eine locker definierte soziale Zusammenkunft ist immer noch ein enger Raum; es gibt mehr Türen, die hinaus- und hineinführen und mehr psychologisch normale Gründe, sie zu durchschreiten, als jenen träumt, die situationeller Gesellschaft gegenüber immer loyal sind.” in allen genannten Fällen muß jemand etwas tun, obwohl er das, was er bewirken will, so am allerwenigsten erreichen kann.
Daß es für ein solches Manöver der Selbstachtung bei den Mitakteuren in der jeweiligen Situation kein Verständnis geben zu können scheint, liegt daran, daß situationelle Erfordernisse moralischen Charakter haben. Der Einzelne ist nicht nur gezwungen, ihnen Rechnung zu tragen, sondern er muß dies auch wollen. Mißlingt es ihm, wird offiziell davon Kenntnis genommen. Er gerät nicht nur in den Verdacht, den moralischen Verpflichtungen des Situationsteilnehmers nicht gerecht werden zu wollen, man zweifelt auch an seiner Kompetenz, hierzu überhaupt in der Lage zu sein.
So führt die interaktive Entwicklung einer Situation zu einer Divergenz der Fremd- und Selbstwahrnehmungen. Die Art und Weise, wie der Selbstsaboteur in diesem Moment von den anderen wahrgenommen und beurteilt wird, ist seiner Selbstbehauptung diametral entgegengesetzt. Die anderen bestehen auf der Loyalität gegenüber der Situation und können sich nicht vorstellen, daß jemand unter bestimmten Umständen von dieser Pflicht entbunden sein könnte. Sie führen eine Gerichtsverhandlung auf, in der der Abweichler für sein Vergehen bestraft wird. Jenes Ich aber, das sich zum Narren macht, um unter Einsatz der ohnehin schon prekär gewordenen sozialen Existenz die “Verrücktheit des Ortes” zu demonstrieren, der mitteilt, daß das in der Situation gefangene Ich nicht sein eigentliches Ich sei, setzt aus sich einen Narren heraus, wie eine zweite Person, die neben ihn tritt, mit der er spielt wie mit einer Puppe. Und das Stück, das er spielt, handelt von seiner eigenen sozialen Vernichtung, allerdings auch von der Erwartung der gütigen Rettung durch die anderen, die sogar stolz auf den Abweichler sind und ihn als Helden verehren.
Das Verhalten desjenigen, der um der Selbstachtung willen sein Ansehen und seine Anerkennung in der Gemeinschaft aufs Spiel setzt, ist zu vergleichen mit der aus Action-Romanen bekannten Figur eines entkleideten und an einen Stuhl gefesselten Mannes, der dem Schurken, der ihm mit Tod und Folter droht, höhnisch ins Gesicht grinst oder ihn gar anspuckt. Der Held spitzt seine Situation noch freiwillig zu, um seine Verachtung für die Anmaßung des Schurken und dessen Stil auszudrücken. Stiere aus guter Zucht besitzen diesen Mut in hohem Maße. Sie akzeptieren die für sie veranstalteten Turniere und kämpfen aus einer immer schwächer werdenden Position heraus weiter. Jeder kennt diesen Kult des beharrenden Mutes, der sogenannten Kämpfernatur. Beim Publikum nährt er die märchenhafte Hoffnung, daß sich das Blatt noch wenden und er dennoch siegen könnte. Obwohl dieses Mitfiebern jedem vertraut sein dürfte, ist doch niemand bereit oder fähig, sie in Alltagssituationen dem gegenüber aufzubringen, der in aussichtsloser Lage den Mut eines Kampfstieres beweist. Dessen Mut muß ausgegrenzt und kanalisiert werden, ohne in der Weise bewußt zu werden zu können, daß dies für die Alltagsinteraktion folgen hätte.
Irving Goffmans Beobachtungen verlangen zwei Konsequenzen. Zum einen ist nicht alles krank, was so aussieht. Zum anderen besteht ein Kontinuum von gesunden Reaktionen und dem, was die Psychiatrie zu etwas Nicht-Nachvollziehbarem erklärt. Dieses Kontinuum ist wohlverstanden weitaus leichter nachvollziehbar als die vermeintliche Homogenität der Normalitätsvorstellungen untereinander.
Donnerstag, 30. Dezember 2010