Dummheit
Dumm sind immer die anderen. Es ist prinzipiell unmöglich, mit Sicherheit zu wissen, nicht selbst zu den Dummen zu gehören. Den festen Ort, von dem aus man über Dummheit urteilen könnte, gibt es nicht. So wenig, wie man nie weiß, ob die Zivilisierten, die über Barbaren richten und herrschen, nicht selber Barbaren sind, so wenig kann jemand, der andere der Dummheit bezichtigt, sich davon frei wissen. Erasmus von Rotterdam zog daraus listig die Konsequenz, die Dummheit selbst zu Wort kommen zu lassen. In seinem „Lob der Torheit“ feiert sie sich selbst als universales Prinzip, das die Welt regiert, und als Regentin, deren Regime insbesondere jene anheim fallen, die sich davon frei wähnen. Da sich zu sträuben zwecklos ist, sei es ratsam, das Regime anzuerkennen. Das klügste sei unter diesen Umständen, sich zu seiner eigenen Torheit zu bekennen.
„Die Dummheit“, schreibt Roland Barthes, „ist ein harter Kern und unteilbar, urtümlich: Man kann sie nicht wissenschaftlich zerlegen" (1975). Warum eigentlich nicht? Warum sollte sich die Faszination der Dummheit nicht mit einer theoretischen Analyse verbinden lassen? Man muß zunächst sicher Erasmus von Rotterdam zustimmen, der konstatierte: Die Dummheit ist „eine Kraft, die in der ganzen Welt wirkt". Diese Einsicht verbindet den Humanisten mit dem Pragmatisten Charles Sanders Peirce, der lapidar bemerkte, daß es töricht wäre, die menschliche Dummheit begrenzen zu wollen: „I have come to the conclusion that it is folly to attempt to set limits which human stupidity cannot overpass" (CP 4.321). Dieser Gedanke findet seine Fortsetzung in einer Passage aus Umberto Ecos Roman „Das Foucaultsche Pendel“, in der die Protagonisten nur noch zwischen Graden der Unangemessenheit unterscheiden:
“Also passen Sie auf: In der Welt gibt es die Idioten, die Dämlichen, die Dummen und die Irren.“ „Sonst nichts?“ - „Doch, uns zwei zum Beispiel, oder jedenfalls - ohne wen zu beleidigen - mich. Aber letzten Endes, genau besehen, gehört jeder Mensch zu einer von diesen Kategorien. Jeder von uns ist hin und wieder idiotisch, dämlich, dumm oder irre. Sagen wir, normal ist, wer diese Komponenten einigermaßen vernünftig mischt." (Eco 1989).
Die Dummheit ist nicht nur ein universales Phänomen, sie ist auch grenzenlos. Wir befinden uns nie außerhalb ihres Einflußgebietes. Man scheint ihr mit Vernunft nicht beizukommen. Das Wesen der Dummheit ist, daß sie ihrer selbst nicht bewußt ist. Dummheit ist gegen Selbstreflexion imprägniert. Sie stellt den Sonderfall dar, für den die Erkenntnistheorie keine Geltung hat. Sie ist ihr blinder Fleck. Die gesamte Erkenntnistheorie kreist um diesen Kern, der jedoch selbst der Erkenntnis nicht zugänglich ist. Gerade darum aber besteht „die ganze Geschichte der Logik“, wie es in Umberto Ecos Roman „Das Foucaultsche Pendel“ heißt, „in der Definition eines akzeptablen Begriffs der Dummheit“.
Die Befreiung aus dieser Falle, deren erkenntnistheoretische Relevanz zwar bereits in dem Sokrates zugeschriebenen Satz anklingt „Ich weiß, daß ich nichts weiß“, aber erst in der Epoche der Aufklärung zum privilegierten Thema wird, versprach für die Menschen der Renaissance noch das Lachen. In diesem spontanen Akt wissen wir Dummheit von Witz zu unterscheiden. Sogar bei Erasmus gibt die Torheit diesen Hinweis: „Quam male audiat Stultitia etiam apud stultissimos, tamen hanc esse, hanc, inquam, esse unam, quae meo numine Deos atque homines exhilaro“. Umgekehrt kann man mit André Glucksmann fragen: „Worüber lacht man, wenn nicht über die Dummheit?“
Das Lachen und die Komik werden allgemein und seit jeher als der theoretische Hauptzugang zur Dummheit betrachtet. Im fünften Kapitel seiner Poetik beschrieb Aristoteles das Komische und die Komödie als Nachahmung eines „mit Häßlichkeit verbundenen Fehlers“ des Denkens, Sprechens und Handelns, solange dieser Fehler harmlos ist. Hobbes bestimmte ähnlich das Komische als das „plötzliche Gefühl der eigenen Überlegenheit angesichts fremder Fehler“, deren Ursache Ignoranz und Inkompetenz ist.
Das als komisch erfahrene Dumme erscheint als Abweichung von den Normen des angemessenen Interpretierens und Verstehens. Mit Searle, Apel oder Habermas registrieren wir diese als Verletzung der konventionellen Erfüllungsbedingungen oder Prozeduren, mit Grice und Davidson als Abweichung von den Konversationsmaximen einer Interpretationspraxis, deren Rationalitätsstandards primär auf Prinzipien der Effektivität des Diskurses und der Plausibilität des Interpretierens rekurrieren. In seiner "pragmatischen Transformation" der Bewußtseinsphilosophie beschrieb bereits Charles Sanders Peirce Dummheit als „Mangel an abduktiver Kompetenz“. Leitprinzip seiner Untersuchungen ist das Ökonomieprinzip. Dieses Prinzip macht sich darin geltend, daß wir Interpretationen danach beurteilen, ob ihr Aufwand dem Sachverhalt angemessen ist. Wir empfinden instinktiv etwas als komisch oder lächerlich, wenn es entweder die Form eines starren „interpretativen Automatismus“ annimmt oder die Form einer „interpretativen Aufwandsdifferenz“. Angesichts dieser Terminologie bietet es sich an, den Peirce‘schen Ansatz mit Freuds Begriff der psychischen „Aufwandsdifferenz“ als Formel aller komischen Phänomene zu verbinden.
Die beliebte Verbindung der Dummheit mit der Komik und dem Lachen könnte sich jedoch als eine philosophische Sackgasse erweisen. Wenn nun das von Hobbes beschriebene „plötzliche Gefühl der eigenen Überlegenheit angesichts fremder Fehler“ trügerisch wäre. Die in der späthellenistischen Satire bereits als Topos gepflegte und nach der Renaissance wieder stärker in den Vordergrund tretende böse Ahnung, am Ende selbst der Düpierte zu sein, (getreu dem Sprichwort: Wer zuletzt lacht, lacht am besten,) trübt das Grandiositätsgefühl des Lachens über den Tölpel. Um die Unsicherheit über die Zuverlässigkeit des Überlegenheitsgefühls, das sich im Lachen über etwas, das als Dummheit bloßgestellt ist, zu überwinden, müssen wir nach einem alternativen Zugang zur Dummheit jenseits der Verknüpfung mit der Komik suchen.
Dummheitstheorien nehmen gewöhnlich die Perspektive dessen ein, der lacht, und fragen, warum wir lachen, oder sie halten sich an das, wozu der Dumme nicht fähig scheint. Sie fragen nicht danach, wie man zum Dummen wird und was wir falsch machen, was wir tun oder lassen müssen, damit unser Handeln zur Dummheit wird. Der Wirtschaftshistoriker Carlo M. Cipolla ist einer der wenigen, die einen anderen theoretischen Weg wenigstens suchen, wenn seine Definition auch reichlich bizarr daherkommt. Er nennt in seinem Essay über „Die Prinzipien der menschlichen Dummheit“ die Dummheit eine pragmatische Geschäftsuntüchtigkeit. Sie bestehe darin, daß ein Mensch „einem anderen Menschen oder einer anderen Gruppe von Menschen einen Schaden beibringt, ohne zugleich einen Gewinn für sich selbst dabei herauszuziehen“ (1992). Die Dummheit eines Menschen bestünde demnach darin, daß er nicht in der Lage ist, die Grundprinzipien der Ökonomie zu erkennen und anzuwenden. Der Dumme wird unterschieden von dem, der anderen Gutes tut, um selbst davon zu profitieren, auch von dem, der anderen Schaden zufügt, um daraus einen Vorteil zu ziehen, sowie von dem, der sich selbst schadet, um anderen Gutes zu tun.
Cipolla führt Dummheit auf die mangelnde Kenntnis der Spielegeln oder der geltenden Normen zurück. Das setzt freilich voraus, daß jene Regeln oder Normen absolut und objektiv gelten und nicht erst interaktiv ausgehandelt werden und sich situativ erweisen müssen. Wer aber definiert außerhalb eines Spiels, ob etwas jemandem zum Vorteil gereicht oder nicht. Außerdem ist es schwer vorstellbar, wie man jemandem schaden kann, ohne daraus einen Vorteil zu ziehen. Welcher Schaden ließe sich denken, der nicht per se mit einem Vorteil für den anderen verknüpft wäre. Beispiele sind nicht leicht zu finden. Die Armee eines Landes vernichtet eine gegnerische Armee, ohne territoriale Ansprüche zu stellen? Ein Pirat kapert ein gegnerisches Schiff, ohne den Schatz anzurühren? Es dürfte auch hierbei schwer sein, definitiv auszuschließen, daß entweder das Delikt nur vorgetäuscht ist und der Gewinn anderswo liegt oder sich dieser dumme Verzicht auf den möglichen Gewinn nicht letztlich gerade als Vorteil herausstellen, der Verlust sich als Gewinn entpuppen wird. Ausschließen ließe sich das nur unter den ein für alle mal fixierten Bedingungen eines Spiels. Im richtigen Leben jedoch ändern sich die Regeln während des Spielens.
Kehren wir noch einmal zu dem allgemein akzeptierten Überlegenheitsgefühl zurück, das uns das Lachen etwa bei Bocaccio über die Dummheit verschaffte. Thomas Hobbes rückt dieses Gefühl ins Zentrum seiner Gedanken zur Komik. Er sprach davon, daß sich für den Lachenden das Gefühl der Herrlichkeit mit dem Gefühl der überlegenen Mächtigkeit verbindet: "Glory, or internal gloriation or triumph of the mind, is the passion which proceedeth from the imagination or conception of our own power" (Hobbes 1840). Dieser Triumph resultiert daraus, daß man seine eigene Fähigkeit mit der Unfähigkeit der anderen vergleicht und sich das Überlegenheitsgefühl als "plötzliche Selbstverherrlichung", nämlich als "sudden glory" präsentiert (Hobbes 1839). Am anderen stellt der Lachende einen Mangel an "power", an Mächtigkeit oder Kompetenz fest. Hobbes spricht ausdrücklich von einem gefühlten Gewinn, den man auf Kosten von jemand anderem einstreicht, ohne diesem veritablen Schaden zufügen zu müssen. Wenn diesem ein Schaden entsteht, dann durch die soziale Legitimität des Lachens, in das andere einstimmen können, über dessen Berechtigung spontane Einigkeit besteht, so daß es sich nicht um einen Schaden, sondern um eine Lektion handelt, von welcher der Ausgelachte am meisten profitiert. Der Schaden ist also nicht etwas, das einem Individuum in böser Absicht oder mit dem Ziel, Profit zu machen, von einem anderen zugefügt wird, sondern das jemanden auf verdiente Weise ereilt, weil er sich selbst zum allgemeinen Gespött gemacht hat, und das sich als Gewinn erweist. Boccaccios „Decamerone“ bildet ein Kompendium exemplarischer Beispiele für dieses gesellschaftliche Gericht über den Dummen, der am Ende nicht anders kann, als das Urteil anzuerkennen und mitzulachen. Man hat alle anderen im Rücken, wenn man lacht. Das Lachen ist verbunden mit einem Wir-Gefühl, es vereint uns mit allen anderen zur Gemeinschaft, die den einen Dummen nur solange isoliert, wie er nichts dazu gelernt hat. Man geht davon aus, daß über das betreffende Verhalten jeder andere auch lachen würde.
Hobbes Reflexion nimmt wie Boccaccios Beffa die Perspektive des Lachenden ein, der über den Dummen triumphiert. Die Verknüpfung der Dummheit mit dem Lachen läßt es nicht zu, sich auf die Seite des Dummen zu stellen, es sei denn, er wäre in der Lage, über sich selbst zu lachen. Doch auch das Lachen in dem Gefühl, darin Teil einer Gemeinschaft zu sein, ist keineswegs sicher vor Verblendung, die ja das Wesen der Dummheit ist. Wie oft hat man über Erfinder gelacht, als sie ihre Erfindungen erstmals der Öffentlichkeit vorstellten. Dieses Lachen mußte sich auf lange Sicht eines Besseren belehren lassen. Am Ende erwiesen sich die Lachenden selbst als dumm. Außerdem könnte man einwenden, daß ein Triumphgefühl, ein Gefühl der Grandiosität, das sich auf nichts sonst stützen kann, als auf das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, erbärmlich ist. Statt aus der vermeintlichen Schwäche des einen Gewinn zu ziehen, sollte man sich mit dem einen, der durch das Lachen von allen anderen isoliert ist, solidarisch empfinden und verhalten. Eigentlich müßte man sich für den, über den man lachen muß, einsetzen. Eigentlich ist der Profit, den ich dabei für mich verbuche, indem ich mich überlegen fühlen darf – um auf die Ökonomie zurückzukommen - ein Geschenk des Tölpels, dessen Gabe an mich. Der Profit ist kein eigenes Verdienst. Ich müßte diesem dafür also eigentlich dankbar sein und ihn belohnen, statt ihn bloßzustellen und verächtlich zu machen. Und wenn das Gemeinschaftsgefühl auf der Imagination dessen basiert und angewiesen ist, der sich im Lachen über den einen erhaben dünkt, was ist es dann wert? Man könnte also mit guten Gründen das Triumphgefühl gegenüber dem anderen, den man für inkompetent erachtet, selbst als Manifestation der Dummheit identifizieren.
Wenn man den imaginären Gewinn des einen auf Kosten eines imaginären Defizits des anderen nicht als Triumph über die Dummheit, sondern selbst als Symptom der Dummheit verstünde, so würde dies bei Hobbes im Kontext des Krieges aller gegen alle stehen, der seiner Staatstheorie zufolge in dem Maße als Regression in den Naturzustand droht, wie der Staat Schwäche zeigt. Denn im Gegensatz zu Rousseau, der jenen Naturzustand als paradiesischen Urzustand vor dem Sündenfall der Entfremdung ansieht, ist er bei Hobbes das Regime der Dummheit. Der Staat muß die Individuen davor bewahren, in diesen Zustand zurückzufallen, in dem jeder des anderen Wolf ist. Die Individuen brauchen den Staat, damit er sie vor sich selbst, damit er sie vor ihrer eigenen Wolfsnatur beschützt, die sie ohne die Gewalt des Staates unweigerlich hervorkehren müßten, so wie Dr. Jekyll nicht verhindern kann, daß er nachts zu Mr. Hide wird.
Der Wissenschaftstheoretiker Nicholas Rescher behauptet, „eine Beimischung von Dummheit“ sei „evolutionär von Vorteil“ (Rescher 1994), da der Mensch nur in der Gesellschaft überleben könne, als "Intelligenzbestie" aber die Kooperation mit der Gesellschaft gar nicht nötig hätte. Wir müßten lediglich Intelligenzbestie durch Dummheitsbestie ersetzen.
Die Frage ist, ob das aus dem Lachen geborene Wir dasselbe ist, das der Staat stiftet, und ob die Genese dieses Wir auch die Genese des Staates ist, oder ob nicht dieses Wir Ausdruck des Naturzustandes ist, wo der Mensch des Menschen Wolf ist, weshalb wir eines Staates als das bedürfen, was uns vor unserem eigenen Gewaltpotenzial als losgeschlagene Individuen schützt. Dieses individuelle Gewaltpotenzial bestünde in unserer Neigung, im Lachen über den einen uns als Teil einer Gemeinschaft zu imaginieren, die das Zeug hat, zur Masse, ja zur Meute zu werden.
Eine solche Umkehrung könnte weitreichende Implikationen und Konsequenzen haben. Sie wirft vielleicht ein neues Licht auf das, was die soziale Welt im Innersten zusammenhält. Sie könnte uns offenbaren, daß es keineswegs die Normen und Werte sind, die diese Aufgabe leisten, sondern ein Mechanismus, der uns davor bewahrt, uns in dem wiederzuerkennen, der sich ungeschickt bewegt, der die Spielregeln nicht begriffen zu haben scheint, der gegen das Gebot der Angemessenheit verstößt. Er schützt mich als Individuum davor, erkennen zu müssen, daß auch ich der Tölpel sein könnte. Damit schützt er zugleich die Gemeinschaft in ihrem Bestand, indem er der Gemeinschaft einimpft zu glauben, sich gegen das Lächerliche als das Anormale zur Wehr setzen zu müssen.
Wenn Hobbes dem Staat zutraute, die Dummheit aus der Welt zu schaffen, indem er sie als Eigenschaft des Einzelnen im staatslosen Naturzustand wertete, dann müßte man nun umgekehrt anerkennen, daß der Staat im Gegenteil die Dummheitsfähigkeit des Einzelnen sozialisiert und in eine Dummheitspflicht verwandelt.
Donnerstag, 30. Dezember 2010