Esel
Pinocchio wunderte sich darüber, daß die Esel, die den Wagen zogen, der ihn in das Spieleland bringen sollte, Füße hatten wie Jungen, die in Schuhen stecken. Aber er zog keine Konsequenzen aus dieser Beobachtung. Allmählich werden lauter Details relevant, die Pinocchio sehend übersieht, eyes wide shut. Der Wagen, der ihn ins Spielzeugland brachte, wurde von Eseln gezogen, die Schuhe trugen, wie Menschen sprachen und bei Schlägen weinten. Das nette Männchen auf dem Kutschbock biß einem der Esel die Ohren ab, als er aus Müdigkeit störrisch war. Die Katze hatte ein abgebissenes Ohr. Pinocchio durfte die unübersehbaren Hinweise nicht erkennen, obwohl er sie rein physiologisch nicht übersehen konnte. Das Unbewußte, das Pläne mit ihm hat, macht ihn sehend blind für alles, was seine Seele an ihrer Ausübung von etwas hindern könnte, das sich erfüllen muß. Wir denken an die “Zeichenlosigkeit der Vorzeichen”, wie es in Hölderlins Übersetzung der “Antigonä” heißt, die für sie mörderisch sind.
In der Menippeischen Satire des Späthellenismus, wo es um die Gerichtsprozesse und die Erniedrigungen der einst Mächtigen nach dem Tode geht, die schadenfrohe Verkehrung der erwarteten Apotheosen in demütigende Katabasen, finden sich die einstigen Herrscher im Hades wieder als Bettler, Schinder, Rattenfänger und Schuhputzer, oder als jemand, der in alle Ewigkeit mit einem bodenlosen Becher würfeln muß, als Zugpferde oder als Esel. Auch in dem berühmtesten der hellenistischen Romane, dem „Goldenen Esel“ von Apuleius, spielt ein Esel die entscheidende Rolle. Pinocchios Fee hat eines ihrer Vorbilder in der Wirtin der Herberge, in welcher der Erzähler des absteigt. Diese wird von ihrer Zofe, in die sich der Ich-Erzähler verliebt, als eine Zauberin, eine Fee vorgestellt. Der kommt auf Geschäftsreise ins Hexenland Thessalien und will Einblicke in die Magie erhalten. Als Folge einer Zauberpanne wird er in einen Esel verwandelt. In Eselsgestalt widerfahren ihm eine Reihe leidvoller Abenteuer, wie etwa die Verschleppung durch Räuber und die Verführung durch eine vornehme Dame, bis ihm endlich die Flucht gelingt. Einer Rose, die er einem Priester aus der Hand frißt, verdankt er schließlich seine Rückverwandlung.
“Der goldene Esel” parodiert den idealisierenden Roman der Epoche, der stereotyp von den Irrfahrten eines Helden berichtet, dem durch die Mißgunst der Götter Leiden und Abenteuer auferlegt sind, die er aber standhaft besteht und für die er am Ende belohnt wird. Apuleius entspricht den Erwartungen, unterläuft aber das Schema dadurch, daß der Held zeitweise in Eselsgestalt agiert und Komik auf seine eigenen Kosten produziert.
In der Stadt Hypata, in der Lucius Einblick in die Hexenküche gewinnen will, wird er auf dem nächtlichen Heimweg von einer Zechtour von drei finsteren Gestalten überfallen. Er setzt sich mit dem Schwert zur Wehr und wird dafür von der Stadt-Obrigkeit des Mordes angeklagt. Die Justiz verurteilt immer die falschen, wie es auch im „Pinocchio“ heißt. Die Katastrophe löst sich allerdings in Wohlgefallen auf: Die Leichen entpuppen sich als aufgeblasene Schläuche aus Ziegenfell, auf eine Weise, die auf den “Don Quijote” vorausweist. Lucius war Opfer eines Karneval-Kultes, der alljährlich zu Ehren des Gottes Risus durchgeführt wird. Seine Todesangst hatte zur Belustigung der anderen bei einem Götterfest gedient. Es wird aber bald eine andere konkurrierende Erklärung nachgeschoben, derzufolge Lucius Gespielin, die Zofe Photis, listig gesteht, sie sei schuld an dem Desaster. Sie habe auf Veranlassung ihrer Herrin einen Mann mit Hilfe von Haaren herbeizaubern wollen. Da sie aus Mangel an Männerhaaren Ziegenhaare verwendet habe, seien die Schläuche lebendig geworden, zum Haus der liebeslustigen Herrin geeilt und dort auf Lucius getroffen. Somit war er Opfer der Rache der Photis, die eifersüchtig war wegen der Untreue Lucius, an der wiederum er sich nicht schuldig fühlt. Die verschiedenen und einander widersprechenden Versionen bleiben unaufgelöst nebeneinander stehen. Das Erzähler-Ich stellt sich gleich zu Beginn als „at ego“, als „Aber Ich“ vor. In seiner Selbstvorstellung macht es sich in der Überbetonung der Authentizität zugleich unglaubwürdig durch geografisch unvereinbare Angaben zu seiner Herkunft. Demnach müßte der Erzähler aus allen Gebieten Griechenlands zugleich stammen. Die Unentschiedenheit dient als Hinweis darauf, daß die Einheit des Erzähl-Ich nicht gesichert ist. Das Autor-Ich scheint also eher eine Erzählstrategie denn eine reale Person sein zu sollen. Im Verlauf des Romans nehmen die Unklarheiten über die Identität des Helden und Erzählers zu. Der Isis-Priester, in den sich der Held am Schluß verwandelt, scheint nichts mit dem Helden der bisherigen Geschichte zu tun haben. Zahlreiche Erzählstränge bleiben abgebrochen liegen, weil der Held immer wieder die Flucht aus der jeweiligen Szene ergreift. Wie in einem Kriminalroman wird er mehrfach auf falsche Spuren und in die Irre geleitet. Anders als im Krimi wird aber die Verwicklung und das Abirren auf falsche Fährten nicht aufgelöst, sondern am Ende bleibt die Verwirrung bestehen. Die irritierende Löchrigkeit stellt für den Leser die Chance dar - mit John Winkler gesprochen - to play his own game. Das Verständnis setzt allerdings eine Bereitschaft des Lesers voraus, sich bezüglich des Common-sense und der Lese-Routinen buchstäblich vor die Tür setzen zu lassen.
Donnerstag, 30. Dezember 2010