Ethnomethodologie
Harold Garfinkel behauptet, daß die von den Soziologen als faktisch gegeben angenommenen sozialen Strukturen sich einem Zirkelschluß verdanken und sie sich als eine sich stets erneut in und aus dem momentanen Verhaltenskontext produzierende Kontingenz enthüllen. Eine jeweils momentane, situationsbedingte Glaubwürdigkeit im Verhalten fungiere als normativer und normalisierender Referenzpunkt. Er folgert hieraus: „Die Aktivitäten, in denen Mitglieder einer Gesellschaft Alltagsangelegenheiten situativ produzieren und managen, sind identisch mit den Prozeduren, in denen diese solche Situationen legitim machen.“ Für ihn gilt deshalb die methodische Regel: „Betrachte soziale Fakten als Rechtfertigungen und Rationalisierungen“. „Die implizite Logik dieser Produktion, in der die ablaufende Interaktion sich ihre eigenen, durchaus als situationsenthobene Idealitäten erscheinenden Kriterien schafft“, ist der Forschungsgegenstand der Ethnomethologie, wie sie in der Tradition der Chicago-school im Gefolge von George Herbert Mead und Anselm Strauss von Garfinkel und Cicourel entwickelt wurde.
Die Struktur der Produktion dieser Normalität zeigt sich in der Indexikalität des interaktiven Verhaltens. „Die konkreten Personen sowie die zeitlichen und räumlichen Verhältnisse bilden die stillschweigend vorausgesetzten Verankerungspunkte der Sinnmomente. In der Bindung der praktizierten Sinnstrukturen an das Hier und Jetzt sind sie einerseits nur für den Einzelnen verfügbar, zum anderen ist in dieser Bindung zugleich eine idealisierende Tendenz am Werk, die diesen Sinnstrukturen eine Selbstverständlichkeit und unantastbare Gültigkeit verleiht und sie zum Boden weiterführender Wirklichkeitsmomente werden läßt.“ (Coenen)
„Bestimmte im Umkreis des bekannten Handlungkontextes auftretende Erscheinungen werden als Anzeichen für das bisher nicht Erkannte Bestehen eines tieferliegenden Sachverhalts aufgefaßt, wobei umgekehrt dieser Sachverhalt vorausgesetzt wird, damit die gemeinten Erscheinungen überhaupt wahrnehmbar werden und einen aufeinander bezogenen Sinn aufzeigen können (...) Auf diese Weise stellt sich ein äußerst feines Gewebe von Erklärungs- und Überzeugungspraktiken her, in dem durch wechselseitige Einladung und Zustimmung gemeinsame Realitäten jeweils neu entstehen, sich bilden und umbilden.“ (ebenda)
Wir sind an die Verknüpfung von psychischen Störungen mit moralischen Verfehlungen in einem so hohen Maße gewöhnt, daß wir sie nicht wahrnehmen. Um herauszufinden, was tatsächlich geschieht, wenn ein Individuum für verrückt erklärt und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird, muß man die Regeln erforschen und anwenden, wie man in einer Gesellschaft verrückt wird, indem man überzeugend genug verrückt spielt. Um zu wissen, wie der Borderliner gesellschaftlich hergestellt wird, muß man einer werden, und das heißt, sich zu einem solchen machen lassen.
Um die tatsächlichen Sozialstrukturen entdecken zu können, die von den Normen und Werten, die allgemein für diese Strukturen gehalten werden, nur verdeckt werden, haben die Ethnomethodologen „Erschütterungsexperimente“ ersonnen, mit denen die Selbstverständlichkeitsstrukturen spontan außer Kraft gesetzt werden und die Strukturen der für solche Fälle bereitgehaltenen Heilungsrituale augenblicklich erkennbar werden. Mit solchen Experimenten lebt man gefährlich, zum einen, weil man Aggressionen provoziert, zum anderen, weil man Gefahr läuft, für verrückt erklärt zu werden. Wir sind an die Verknüpfung von psychischen Störungen mit moralischen Verfehlungen in einem so hohen Maße gewöhnt, daß wir sie nicht wahrnehmen. Um herauszufinden, was tatsächlich geschieht, wenn ein Individuum für sozial untragbar oder für verrückt erklärt und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird, weil die Gesellschaft glaubt, sich gegen dergleichen zur Wehr setzen zu müssen, muß man die Regeln erforschen und anwenden, was man tun muß, um Prügel angedroht zu bekommen oder gelyncht zu werden, oder wie man in einer Gesellschaft verrückt wird, indem man überzeugend genug verrückt spielt.
Harold Garfinkel hat vorgeschlagen, wir sollten in der Lage sein, Irrsinn zu programmieren, d.h. die Informationen auf ein Minimum zu reduzieren, die man einem experimentellen Subjekt geben würde, um es fähig zu machen, sozusagen aus sich selbst heraus perfekt irrsinnig zu handeln. Auf diese Weise würden wir die anderen dazu bringen, uns zu verraten, gegen welche moralischen Regeln neurotisches oder psychotisches Verhalten verstößt. Psychische Störungen werden umgekehrt als etwas erkennbar, das die anderen für schlechtes benehmen und für verbrechen halten. Wie Till Eulenspiegel müßten wir nach jedem unserer „lustigen Streiche“ freilich schleunigst das Weite suchen.
Donnerstag, 30. Dezember 2010