Euridike und ihr Double

 

Christoph Willibald Gluck glaubte der Geschichte nicht, wie sie gewöhnlich erzählt wird. Er erlaubte Euridike, bei Orpheus zu bleiben. Daß diese seine Hand berührte, so daß er sich nach ihr umsah, konnte für ihn nicht der Grund für eine derart grausame Bestrafung sein. Ist die Euridike, die Orpheus zurück ans Licht der Welt holt, aber dieselbe Frau, die er an den Tod verlor? Oder ist es die, die man nach dem Verlust der einen, in der man die Einzige erkannte, suchen muß, um den Schmerz in der Wiederholung zu überwinden? Indem ich die Nachfolgerin als identisch mit der vorigen erscheinen lasse, erweise ich der ersten jene Ehre, welche die Trauer erfordert. Auch auf die Gefahr hin, daß diese Liebe wegen zu großer Ähnlichkeit zwanghaften Wiederholungscharakter erhält und auf dieselbe erbärmliche Weise endet wie die vorige. Etwas mehr Selbstsorge wäre vielleicht angeraten. Die Selbstsorge, die verhindern helfen könnte, dieselben Fehler endlos zu wiederholen, scheint in dem Mythos, wie Gluck ihn versteht, allerdings wie Blasphemie. „Denn ist nicht die Bereitschaft, die helle Welt des Sichtbaren zu verlassen, um eine Verlorene wiederzugewinnen, auch auf die Gefahr hin, noch einmal alles zu verlieren, der deutlichste Hinweis darauf, daß es Wichtigeres gibt, als die Sorge um sich selbst?“ (1) Andererseits stünde man mit einer völligen Abkehr von dem Typus der Frau, die man geliebt hat, im Verdacht, Verrat an dieser ersten Liebe zu üben.

Die anderen verlangen, daß man einer Liebe Respekt zollt. Sie verlangen aber auch, die Trauer müsse irgendwann aufhören, denn wenn man von der verlorenen Geliebten nicht lassen will, bezahle man das Verfallensein an sie als ein Verfallensein an den Tod wie Orpheus mit dem eigenen Tod. Der Sinn der Trauer liege paradoxerweise entsprechend darin, ihr eigenes Aufhören herbeizuführen. Trauer, die sich nicht in einem angemessenen Zeitraum selbst erledigt hat, gilt als pathologisch. Um so jemanden macht man einen großen Bogen. Freud zufolge soll man auch dem Begehren nach Ersatz ausweichen, da es dem Sinn der Trauer zuwiderlaufe. „Die Trauer hat eine ganz bestimmte psychische Aufgabe zu erledigen, sie soll die Erinnerungen und Erwartungen der Überlebenden von den Toten ablösen.“ Gluck ist in Gefahr, Freuds Verdikt zu verfallen, doch könnte er sich durch seinen Trick auch davor gerettet haben. Seine Mogelei besteht ja darin, ablösende Trauer und Verfallensein als einunddasselbe erscheinen zu lassen. Euridikes Double macht das Unmögliche möglich, nämlich zu trauern, ohne zu trauern, die Geliebte aufzugeben und sie doch zu behalten.

Das gesunde Ich der Psychoanalyse erklärt sich zum Niederschlag erfolgreich aufgegebener Objektbeziehungen infolge von Trauerarbeit. Wo Ich ist, ist der Andere schon fort. Das Ich ist da, wo der Andere nicht mehr ist. Das Ich ruht auf dessen Abwesenheit auf. Das Ich ist das verlassene aber aufgeschlossene Haus des Anderen. Mein Ich ist die gastliche Hinterlassenschaft des Anderen. (Psyche 958) Erfolgreiche „Trauerarbeit“ – die sprachliche Verlötung von Trauer und Arbeit verrät bereits einiges - ist die Gewöhnung an die Abwesenheit des Anderen. Das Ich kassiert die Prämie dafür, daß ich den Anderen verraten oder erschlagen habe. Wenn aber jede neue Objektbeziehung auf den Trümmern zuvor aufgegebener Objekte aufruht, dann ergibt sich eine Serie notwendiger Ersatzobjekte als Vorgeschichte und Möglichkeitsbedingung von Ich-Identität. Das Ich etabliert sich offiziell infolge einer nicht enden wollenden Kette von Niederschlagungen als Niederschlag dieser gewaltsamen Geschichte.

Ein solches Ich ist mit dem Subjekt der Liebe nicht vereinbar. Liebe verlangt, sich hinzugeben, sich zu überantworten, je rückhaltloser desto besser. Wenn es sich bei der Trauer aber nicht um pure Psychoökonomie der Selbsterhaltung handeln soll, dann verbindet sie den Verrat, den die Selbstsorge voraussetzt, mit der Treue zum Objekt. Glucks „Euridike“ formuliert mithin einen Begriff des Ich, der dem Freuds entgegengesetzt ist, eines Ich, das sich in seiner vermeintlichen Schwäche als stark erweist. Die Tote, indem sie mich verläßt und sich in eine uneinholbare Vergangenheit zurückzieht, verrät dem Verlassenen, wo er sie in der Anderen findet, in der Unterwelt, als verräumlichte Vergangenheit. Da sie ihre Liebe niemals freiwillig an eine Rivalin abtreten würde, kann die Andere nur sie selbst sein. Ihr Haus ist doch noch nicht verlassen.

Indem ich der Verlorenen in der Liebe zur Nachfolgerin als Double die Treue halte, erweise ich ihr die gebührende Ehre und werde dennoch dem Gebot der Lebenden gerecht, mich von den Toten zu lösen. Ein solcher Oprheus wird auch nicht von den Mänaden zerfleischt. Sie hätten dazu keine Veranlassung.

Eine solche Euridike hat Ähnlichkeit mit Jensens „Gradiva“. Der Held halluziniert, was andere sich lediglich vorstellen mögen. Er ist davon überzeugt, die antike Gradiva zu lieben. Die mythologische Figur wird als reale Person wahrgenommen. In Wahrheit handelt es sich um eine Freundin der Kindheit, die er zwischenzeitlich aus den Augen verloren und vergessen hatte.

R. Barthes wird sie zum Vorbild einer Frau, die sich erbarmt. Sie fügt sich anfangs seinem Wahn, um ihn sanft daraus zu wecken; sie macht sich ihn ein Stück weit zu eigen, begnügt sich damit, die Rolle der Gradiva zu spielen, die Illusion nicht plötzlich aufzuheben und den Träumer nicht brüsk aufzustören, unmerklich Mythos und Realität einander anzunähern, wodurch das Liebeserlebnis etwa dieselbe Funktion übernimmt wie eine analytische Kur.

Wie das Selbstverletzungsagieren, das der Reproduktion des Traumas dient, also dem Zwang zur Wiederkehr (nicht zur Wiederholung) des Traumas folgt, so wird im Verhältnis zur Nachfolgerin die Beschädigung oder Verwundung handelnd nachvollzogen, aber zugleich wird darin eine Erleichterung und die Überwindung gesucht. Der Doppelaspekt von blinder Tat und herbeigeführter Heilung ist dabei entscheidend. Eine paradoxe Differenzerfahrung zwischen Beschädigung und Aufhebung der Beschädigung, zwischen Angriff und Versöhnung, zwischen Destruktion und Überleben, liegt in der Selbstbeziehung mit dem Double.

So wie das Gewaltopfer in scheinbar masochistischer Weise wie zwanghaft versucht, die Funktion des Anderen, die jener zerstört hat, doch noch zu etablieren, indem es selbst in die Beziehung zum Täter die Differenz zwischen Objekt und Anderem einzutragen versucht, wie das Opfer selbst also versucht, das, was der Täter bei ihm ausgelöscht hat, das Vertrauen in die symmetrische Respektierung der Andersheit des Objekts, als Opfer wieder aufzubauen, so versucht der Trauernde in der Nachfolgerin die zerstörte geteilte Welt wieder zu errichten, obwohl dies mit ihr als Double einerseits am allerwenigsten geht, aber es mit ihr dennoch alternativlos ins Werk gesetzt werden muß. Da das, was das Opfer unternimmt, der ohnmächtige Versuch einer einzelnen Person ist, das zu leisten, was nur in einer interpersonellen Begegnung der Anerkennung und Wiedergutmachung zu leisten ist, benötigt er die Nachfolgerin als uneigennütziges Double. (829) 

Dabei geht es nicht um ein neues Erlernen von Nähe und Bindungsfähigkeit, wie die Psychotherapie sich und uns einredet, sondern im Gegenteil darum, die verlorene Distanz zurückzuerobern. Die Nachfolgerin hat die Aufgabe der Mithilfe bei der allmählichen Erzeugung einer Leere, um dort, wo durch übermäßige Okkupation durch den Verlust- oder Trennungs-Schmerz ein belüfteter Erfahrungsraum, ein Intermediärmedium nicht mehr besteht, wenigstens Platz zu schaffen, Luft, Abstand, auch wenn er noch nicht durch das Spiel von Repräsentanten gefüllt werden kann. Wenn bei einem gewaltsamen Übergriff der Andere die Grenzen verletzt, dann tut er dies auch, wenn er sich unerreichbar in die Vergangenheit zurückzieht, sei es indem er den Kontakt radikal abbricht oder indem er stirbt. Er bewirkt dann denselben Effekt wie der Vergewaltiger, indem sein Verlust das Überschwemmtwerden von übermächtigen Gefühlen auslöst. Trauer und posttraumatische Reaktionen sind mithin vergleichbar.

Traumatische Folgen eines Verlustes oder einer gewaltsamen Intrusion sind nun aber nicht nur Effekte der Zerstörung, sondern auch Versuche einer Rückkehr zur Sprache, Versuche eines Wiederaufbaus der lädierten Repräsentationsfunktion. Es gilt, die posttraumatischen Reaktionen und die langfristigen Verarbeitungsmuster unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, daß die Funktion des Anderen wieder aufgebaut werden soll, was häufig nicht mit einer Person oder einer einzigen Beziehung zu bewerkstelligen ist. Die Nachfolgerin (wie die Nachfolgerin der Nachfolgerin etc.) ist nicht so sehr die neue Beziehung, als vielmehr das Theater der Trauer, das ich nicht für mich selbst veranstalte, sondern für die Anderen, damit sie stolz auf mich sein können, darauf nämlich, daß ich daran arbeite, weiterleben zu können, und zwar aus eigener Kraft, ohne dafür ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen, ohne sie zu belästigen. Die Nachfolgerin ist meine eigene Eroberung. Ich verdanke sie allein meiner Gesangeskunst, mit der ich auch wilde Tiere, selbst Pflanzen und Steine zu betören vermag. Die Bäume neigen sich mir zu, die Felsen weinen, der Sturm legt sich, das wütende Meer läßt sich bezwingen. Daß Orpheus in der Sage von den Mänaden zerrissen und zerfleischt wurde, war nur ein bedauerliches Mißverständnis.

Die Wiederkehr Euridikes ist das selbstlose Angebot einer robusten Person, die die Rolle des Winnicott’schen Übergangsobjekts spielt. Die Erschütterung des Verhältnisses zum Anderen kann nur in einer Beziehung therapeutisch bearbeitet werden, die auch im Fall des Traumatisierten die Möglichkeit offenhält, daß das Objekt, der Therapeut oder die Nachfolgerin, als Double der Verlorenen, sich zerstören läßt und diese Angriffe übersteht, ohne diese Zerstörung als Destruktivität dem Charakter des Traumaopfers anzulasten oder dieses in seiner Verarbeitungskapazität zu überfordern.

(Que dirait Eurydice? Emmanuel Levinas en conversation avec Bracha Lichtenberg-Ettinger, Paris 1997)

 

Donnerstag, 30. Dezember 2010

 
 
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