Favelas
Die modernen Gesellschaften kennen keinen vernünftigen Grund mehr, weshalb jemand wegen seines Glaubens, seiner Hautfarbe oder seiner Herkunft vom Zugang zu Arbeit, Wohlstand, Ämtern und Ansehen ausgeschlossen bleiben soll. Daß es dennoch Ausgeschlossene gibt, läßt sich nicht erklären. Es bleibt ein unlösbares Rätsel. Luhmann erklärte dieses nicht existente weil nicht existieren dürfende Phänomen der Exklusion so: "Funktionale Differenzierung kann jedoch, anders als die Selbstbeschreibung der Systeme es behauptet, die postulierte Vollinklusion nicht realisieren. Funktionssysteme schließen, wenn sie rational operieren, Personen aus oder marginalisieren sie so stark, daß dies Konsequenzen hat für den Zugang zu anderen Funktionssystemen. Keine Ausbildung, keine Arbeit, kein Einkommen, keine regulären Ehen, Kinder ohne registrierte Geburt, ohne Ausweis, keine Beteiligung an Politik, kein Zugang zur Rechtsberatung, zur Polizei oder zu Gerichten, die Liste ließe sich verlängern [...] bis hin zu gänzlichem Ausschluß." (Luhmann). Die Ausdifferenzierung in eine Vielzahl von Funktionssystemen ist es demnach, was zu der Exklusion führt und dazu, daß sie nicht begriffen werden kann.
Die brasilianische Favela bietet ein Gegenmodell zu der All-inclusive-Welt der modernen Demokratie. Sie ist nicht ein stabil abgesonderter Exklusionsbereich; sie ist vielmehr mitten in der Gesellschaft und mitten in den Städten ein Zentrum der Hervorbringung immer neuer und vielfältig devianter Inklusionen und Vernetzungen. Sie unterläuft die funktionale Differenzierung und setzt sie lokal außer Kraft, aber sie speist das, was sie erfindet, wieder in die Gesellschaft und in deren globale Funktionssysteme ein. Wir wissen, es ist von Ausbeutung die Rede oder von sozialer Unterdrückung oder von marginalidad, von einer Verschärfung des Gegensatzes von Zentrum und Peripherie. All diese Feststellungen suchen aber Adressaten für Vorwürfe: der Kapitalismus, die herrschende Allianz von Finanz- und Industriekapital mit dem Militär oder mit den mächtigen Familien des Landes. Wenn man jedoch genau hinsieht, findet man dort nichts, was auszubeuten oder zu unterdrücken wäre, außer von den Unterdrückten selbst. Die Bewohner der Favelas warten vergeblich darauf, ausgebeutet zu werden. (Favela Tourism "off the beaten track, Urban Style.")
Wenn offizielle Stellen in Rio kürzlich stolz verlauten ließen, die Drogenhändlerbanden in den Armutsquartieren im Norden der Stadt, vornehmlich im sogenannten „Compexo do Alemao“, seien von der Polizei zerschlagen worden, dann darf man daran Zweifel haben. Tatsächlich ist es eher so, daß angesichts der zwei kommenden Großereignisse des Sports die Polizei, die ohnehin an der Narcokultur mitverdient, dafür gesorgt hat, sich einen größeren Anteil an den Gewinnen aus dem Drogengeschäft sowie dem Favela- und dem Sex-Tourismus zu sichern. Die Drogenkartelle ihrerseits sind an einem Stillhalteabkommen mit der Polizei für die Zeit der Fußball-WM 2014 und für die Olympischen Spiele zwei Jahre später interessiert, wie es ihn bereits während der Panamerikanischen Spiele 2007 gegeben hat. Den Behörden wird Ruhe in Gebieten zugesichert, die im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen, und diese lassen die Banden in anderen Gebieten ungehindert ihre Geschäfte machen und ihr Regime auszuüben. Die Lage hat sich unterdessen verkompliziert, weil sogenannte Milizen, selbsternannte Ordnungskräfte, die der Polizei Arbeit abzunehmen und den Drogenhandel zu bekämpfen vorgeben, selbst an ihm mitverdienen.
Donnerstag, 30. Dezember 2010