Inklusion
Mit den beiden Begriffen Inklusion und Exklusion wird in der Soziologie die Art und Weise bezeichnet, in der Sozialsysteme sich auf ihre personale Umwelt beziehen. Die Quelle der neuen Begrifflichkeit findet sich in der französischen Sozialtheorie. Diese hatte seit Emil Durkheim den Begriff der Gesellschaft mit dem der Solidarität nahezu ineinsgesetzt. Inklusion und Exklusion meinten dann das Gelingen oder das Scheitern der Solidarität der Menschen nach dem Zusammenbruch der feudalen Weltordnung. In der Folge gibt es ein breites Spektrum von Theoretisierungen des prekär gewordenen gesellschaftlichen Zusammenhalts von der Theorie der Sozialdisziplinierung bei Michel Foucault, die sowohl Inklusion wie Exklusion als einen Fall von Disziplinierung auffaßt, bis zur Ungleichheitstheorie eines Pierre Bourdieu.
Wenn sich moderne Gesellschaften als klassenlose begreifen und sich im Unterschied zu früheren Epochen begreifen, dann kann man leicht übersehen, daß auch frühere auf Inklusion setzten. In den Bürgerrechten eingeschränkte Mitglieder wie Sklaven, Juden, Fremde, Verrückte oder Frauen gehörten auch dazu. Sie waren, um es paradox zu formulieren, als Ausgeschlossene inkludiert. Moderne Gesellschaften unterscheiden sich von früheren nur dadurch, daß sie solche Limitationen semantisch und legitimatorisch nicht mehr tolerieren. Aus diesen Gründen dominieren in allen Funktionssystemen Semantiken und normative Selbstbeschreibungen, die Inklusion als Vollinklusion aller Gesellschaftsmitglieder deuten oder dies zumindest als Ziel postulieren. Im Fall der Erziehung würde dies bedeuten, daß für alle noch erziehungsbedürftigen Jugendlichen eine Familie zu finden ist, daß alle den entsprechenden Jahrgängen angehörigen Jugendlichen eine Schule zu besuchen haben und einen Abschluß erhalten müssen.
Die strukturelle Unwahrscheinlichkeit der Realisierung von – zudem plural vorkommender - Vollinklusion in einem globalen Gesellschaftssystem und der „Voluntarismus“ der Funktionssysteme (in ihren Semantiken und Selbstbeschreibungen) bilden eine Disjunktion, die an eine frühere (Krisen-)Diagnose erinnert. Robert King Merton hatte mit Blick auf die noch jungen Vereinigten Staaten eine Disjunktion zwischen einer Wertordnung, die Aufstiegshoffnungen und Erwartungen induziert, und der tatsächlich geringen strukturellen Wahrscheinlichkeit der Realisierung der induzierten Erwartungen festgestellt, und er hatte für diesen Konflikt den Begriff der Anomie vorgeschlagen. Der Ausweg liegt in der fiktiven Möglichkeit, in Amerika als dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten es als Self-made-man vom Tellerwäscher zum Millionär zu bringen.
In einem parallelen Verständnis läßt sich für die von uns gegenwärtig diagnostizierte Disjunktion von induzierten Inklusionserwartungen einerseits und der faktisch stark eingeschränkten Möglichkeit der Realisierung von Vollinklusion andererseits die Vorstellung einer Anomie vertreten. Sie ist heute eine der Weltgesellschaft. Sie fällt lokal nur jeweils unterschiedlich aus, wobei „lokal“ die extreme Verschiedenheit der Kontexte in den Funktionssystemen der modernen Gesellschaft generell meint.
Die moderne Gesellschaft kennt kaum noch Exklusionen, die unwiderruflich und irreversibel sind. Selbst die auch in der Moderne häufigen Massentötungen und Genozide konterkariert sie durch die immer deutlicher hervortretende Memorialkultur der modernen Gesellschaft, eine Memorialkultur, die in vielerlei Hinsicht eine verbindliche Semantik und Kultur der Moderne geworden ist. Diese durch den Akt des Erinnerns korrigierbaren Exklusionen stellen zweifellos einen Extremfall dar. Viel typischer sind für die Weltgesellschaft seit dem 18. Jahrhundert die vielen Exklusionen, die von vornherein in die Form einer Inklusion gebracht werden. Das Gefängnis als eine Instanz der Resozialisation und zugleich der Kontinuierung der meisten Bürger- und damit Partizipationsrechte auch im Moment der Exklusion ist dafür die paradigmatisch moderne Erfindung. Auch der Schulverweis ist rechtlich daran gebunden, daß die exkludierende Schule die Wiederaufnahme an einer anderen Schule mitkontrolliert. Im Berliner Schulmilieu nennt man diejenigen Schüler, die wiederholt von der Schule verwiesen worden sind, „Wanderpokale“, was ironisch die Pflicht der exkludierenden Schule kommentiert, einen neuen Kontext der Inklusion zu suchen, und zugleich, wenn auch blind, die Irrealität der Aufnahmepflicht der übernehmenden Schule reflektiert.
Ein markantes Beispiel stellen die Hoffnungen von Hunderten junger afrikanischer Fußballspieler auf Inklusion in professionelle Leistungsrollen dar. Diese Fußballspieler werden in sehr jungem Jahren, im Alter von 14-15, von Agenten nach Europa „transferiert“, wo die Inklusionshoffnungen der meisten unerfüllt bleiben müssen und viele von ihnen in sehr prekären Situationen in Europa zurückbleiben, mit Ressourcen und Handlungskapazitäten, die vielen nicht einmal die Rückkehr nach Afrika erlauben. Auch die erfolgreichen unter ihnen leben in einem Zustand der „permanenten Transmigration“, die eine monothematische Inklusion in ein System der globalen Zirkulation von Fußballern bedeutet.
Die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion ist mit einem von Louis Dumont eingeführten Terminus eine hierarchische Opposition. Es handelt sich bei Inklusion und Exklusion um eine Gegenbegrifflichkeit, in der einer der beiden Begriffe die Unterscheidung dominiert und den ihm gegenüberstehenden Begriff einschließt. In diesem Fall ist dieser übergeordnete Begriff der der Inklusion, weil auch die noch so zugespitzten Exklusionen zugleich in die Form einer Inklusion gebracht werden müssen. Das ist nicht unbedingt eine optimistische Folgerung, weil, wie sich am Fall des Gefängnisses leicht zeigen läßt, die in die Exklusion eingebauten Institutionen der resozialisierenden Inklusion sich vielfach als problemverschärfend erweisen. Aber es ist eine Folgerung, die in zwei Hinsichten Spezifika der Weltgesellschaft sichtbar macht: Erstens führt sie uns einmal mehr vor Augen, wie sehr die Weltgesellschaft ein System ist, das ohne ein soziales Außen operiert, weil es auch die in ihm vollzogenen Ausschlüsse in neuen Formen wieder in sich inkorporiert. Zweitens weist diese Folgerung auf die Dynamik der Weltgesellschaft der Moderne hin.
Als Faktum und Begriff verschwindet das Draußen, als persönliches Leiden bleibt es bestehen. Indem es des Diskurses entbehrt und nicht zu existieren scheint, verschärft sich das Leiden noch. Als nur noch Begriffloses und Nicht-Kommunizierbares existierend, hat es geringere Chancen, dem Schicksal zu entkommen, als zu feudalen Zeiten. Die enttäuschten Erwartungen können nicht mehr ausgetauscht werden und können nicht mehr zur Solidarisierung führen. Sie sind untereinander nicht mehr koalitionsfähig.
Wir beobachten das Paradoxon von lockerer Inklusion und integrierter Exklusion, wie Luhmann lakonisch feststellt. „Das Switchen zwischen den verschiedenen Sphären und Bezügen funktioniert nämlich nur so lange, wie Zurücksetzungen in der einen durch Höherschätzung in einer anderen Sphäre ausgeglichen werden können. Hat jedoch der Ausschluß aus einem Folgen für den Einschluß in ein anderes Subsystem, dann mehren sich die Mißerfolge und verstärkt sich die Abweichung: keine zertifizierte Ausbildung, keine reguläre Beschäftigung, kein ausreichendes Einkommen, keine gesunde Ernährung, (…) kein Interesse an den politischen Angelegenheiten, kein Zugang zur Rechtsberatung, keine ausreichende Krankenversicherung...“ Man fliegt leicht raus, kommt aber nicht wieder rein, um es umgangsprachlich auszudrücken.
Freitag, 31. Dezember 2010