Interpersonale Aktion
Während wir mit Emile Durkheim in der durch die Industrie beförderten Arbeitsteilung den aktuellen Vergesellschaftungsmodus zu erkennen meinen, spricht doch vieles dafür, die soziale Integration in Wahrheit gegenwärtig gewährleistet zu sehen durch eben den Mechanismus, den Hobbes als das triumphale Gefühl der Überlegenheit über den vermeintlich defizitären anderen beschrieb. Ronald D. Laing bezeichnete diesen Mechanismus als „interpersonal enactment“ (interpersonale Aktion). Er umfaßt all das, bei dem das Selbst sich durch Belastung des anderen reguliert und stabilisiert (die Eltern auf Kosten der Kinder, der Therapeuten auf Kosten des Patienten, ein Beziehungspartner auf Kosten des anderen, der Lehrer auf Kosten des Schülers). Es geht in diesem Vorgang darum, die Gemeinten in der Weise herabzusetzen, daß sich der Diagnostizierende als etwas Besseres fühlen kann, als vergleichsweise reifer und belastbarer, als moralisch wertvoller und charakterlich gefestigter. Dazu, daß dieser Mechanismus, den Joseph Conrad sozialen Kannibalismus nannte, heute die Vergesellschaftung allgemein reguliert, mag wesentlich die Ideologie des Leistungsträgers beigetragen haben: die Einteilung der Menschheit in Positiv- und Negativgruppen, in Steuerzahlende und Transferleistungen Empfangende. Diese Ideologie erlaubt es, die krankhafte Verzerrung der Bewertungsmaßstäbe für normal zu halten, die Bankangestellten zubilligt, für ihre Arbeit das Hunderttausendfache dessen zu verdienen, was ein normaler Handwerker oder kleiner Angestellter im Jahr verdienen kann und was ein promovierter Sozial- oder Literaturwissenschaftler, nachdem er mit 55 Jahren betriebsbedingt freigestellt wurde, mit Lehraufträgen noch bekommen kann.
Freitag, 31. Dezember 2010