Johannes
Neben dem Evangelisten und dem Täufer gibt es einen weiteren prominenten Johannes. Kierkegaards Verführer verkörpert nicht nur wie der Held von „Le Diable au corps” den Dandy, der sich der Emotionen, die er bei einer Frau auszulösen imstande ist, zur Bestätigung seiner selbst versichern muß, sondern er spielt diesen Dandy, um die Erkenntnis der Unmöglichkeit, die Frau zu lieben, die er schließlich selbst um Verlobung gebeten hatte, zu akzeptieren. Unfähig, den Umschwung seines Gefühls von heftigem Begehren und Sich-Verzehren in völliges Desinteresse zu begreifen, schadet er sich selbst. Um die eben noch Angebetete nicht ins Unglück zu stürzen, tut er alles, um sich ihr gegenüber als durch und durch schlechter Charakter hinzustellen, der ihrer Liebe nicht würdig ist. Er setzt das, was die anderen über ihn reden würden, selber in die Welt.
Regine war die Königin seines Herzens. Nach ihrer bereitwilligen Einwillig in die Verlobung, um die er sie anflehte, erkennt er, es war ein Irrtum. In dem Moment, da sich seine unerreichbare Angebetete in eine Frau verwandelt, die ihn will, ist seine Schwermut erwacht. Seine Lähmung wird durch ihre unerwartete Hingabe noch verstärkt, und er erkennt, es muß zum Bruch kommen. Statt Vertrauen in seine Liebe zu entwickeln, sinnt er auf Strategien des Rückzugs. „Nun erhob sich meine Natur gewaltig, um sie abzuschütteln mit aller Gewalt.“
Er faßte den Plan, Schuld auf sich zu laden, um sich in ihren Augen unmöglich zu machen und sie so dazu zu bringen, die Trennung selbst zu wollen. Er stellt sich als Schwätzer dar und präsentiert sich im Gewand des brutalen Zynikers. Die Geliebte soll durch seine negative Intrige dahin gebracht werden, schließlich selbst die Lösung des Verhältnisses anzustreben. Er will sie glauben machen, er sei ein Betrüger gewesen, paradoxer- und perverserweise nur darauf aus, sie rumzukriegen, ohne sie jemals wirklich gewollt zu haben. Um zu erreichen, daß sie nicht seinetwegen leiden muß, will er sie dahin bringen, daß sie ihn haßt und verachtet. Das soll ihr die seelische Spannkraft bringen, sich von ihm zu lösen.
Kierkegaard hatte nichts mit Regine zu tun, als sich mit ihr zu verloben und die Verlobung sofort wieder zu lösen. Aber die Begegnung und der Bruch verleihen seinem Leben seine Prägung. Er sieht sich mit einem Fluch belegt, der es nicht zulasse, daß je ein Mensch sich an ihn binde. Er sei verdammt, „nie etwas im Augenblick der Freude auszuführen, sondern zu warten, bis der Verstand es beruhigt hat“. Einer jeden Frau gegenüber, so seine Schlußfolgerung, muß er künftig „vermeiden, sie an mich zu ziehen.“
Die literarischen Exemplare des immer schon diskrimierten Verlassenden sind die Karrieristen, Verführer aus Kalkül wie Stendhals Julien Sorel oder Flauberts Rastignac, und begabte Schufte wie Maupassants „Bel Ami“, und die boshaften Vertreter des Verführers wie Kierkegaards Johannes, Le Diable au corps (Teufel im Leib) von Raymond Radiguet, Leonhard in Hebbels „Maria Magdalena“, Johann in Nestroys „Zu ebener Erde und erster Stock“, der Graf Valmont in den „Liaisons Dangereuses“, Jean Pauls Rocquairol im „Titan“, der Prinz in der „Emilia Galotti“, ... Ihren Taten kann nur jugendliche Unreife oder moralische Verdorbenheit und zynische Indifferenz zugrundeliegen. Dieser Typisierung versucht er sich zu bedienen.
Dabei ist diese Typisierung selbst ein Konstrukt. Daß die Verführer traditionell Adlige sind, daß wir im Verlassenden stereotyp den Aristokraten sehen, bestätigt die Unterstellung des Teuflischen in ihm. Das Teuflische des Verführers liegt darin, daß er gar nicht die spezifische Bindung im Sinn hat, sondern von vornherein der Verlassende ist, der nur durchexerziert, auf welche Weisen man verlassen kann, und der dafür Liebe vortäuschen muß. Er ist eine fixe Idee des Bürgers. „Im großen Kontext bürgerlicher Emanzipation aus den feudalen Machtstrukturen ist der adlige Verführer bürgerlicher Frauen, der adlige Räuber bürgerlicher Jungfräulichkeit, ein Medium der phantasierenden Selbstvergewisserung und Normenkonsolidierung gegenüber einer Klasse, die man in dem Grade sittlich zu verwerfen liebt, als man sie politisch nicht anzutasten wagt.“ schreibt Peter von Matt.
Es gibt sogar, bei Flaubert etwa, den bürgerlich-moralischen Typus, der sich die aristokratische Kälte antrainieren will, der eine Beziehung mit dem Ziel eingeht, zu lernen fähig zu sein, sie wenn es ihm beliebt, zu lösen, der mit sich wie ein Wissenschaftler experimentiert, um zu sehen, was mit dem anderen passiert. Er will so lernen, sich so davor zu schützen, sich selbst zu verlieren, und nimmt in Kauf, daß dem anderen zustößt, wovor er selber zu viel Angst hat.
Eine besonders perfide Variante bilden solche Erzählungen, in denen der Verführer die Frau bewußtlos macht oder sie im Zustand der Bewußtlosigkeit verführt, wie in Richardsons „Clarissa“. Lovelace gibt der Geliebten ein Schlafmittel ein und beschläft die Bewußtlose. Da bei ihr Tugend so sehr Teil ihres Wesens ist, ja ihrer körperlichen Identität, ist sie gezeichnet, so daß sie über den unkorrekten Verlust ihrer Jungfräulichkeit langsam dahinstirbt. Von einem solchen Fall handeln auch Kleists „Marquise von O“ sowie Barbey d’Aurevilles „Une histoire sans nom“ (Finsternis). Einen ähnlichen Fall stellt Nicolas Roegs Film „Bad Timing“ dar, in dem der Mann, der die Frau dazu getrieben hat, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen, als er sie entdeckt, nichts unternimmt, um sie zu retten, und, anstatt etwa einen Notarzt zu rufen, ein Schallplatte auflegt, sich eine Zigarre anzündet und sich neben sie setzt, um auf die fast schon Bewußtlose einzureden und ihr die Schuld an der eigenen Kränkung vorzuwerfen, während sie schon gar nicht mehr den Mund bewegen kann. Selbst hier, in der größtmöglichen Steigerung der Infamie des Verlassenden, schimmert die Akt der Unterstellung hindurch. Die Frau nämlich, die ihr Unglück hysterisch als traumatische Bewußtlosigkeit darstellen will, muß den Mann als denjenigen erfinden, der sie bewußtlos macht.
Johannes kehrt diese Richtung um, zu einer Zeit, da der aristokratische Verführer seiner Verworfenheit wegen kein ansehen mehr genießt. Er spielt den Verführer zum eigenen Schaden, um die Frau zu schützen. Kierkegaard gibt mit dieser Figur ein Exemplar der zahllosen Männer, die sich als Verlassende die moralische Verachtung aller zuziehen und die niemand nach ihren eigenen Schmerzen fragt und nach dem Preis, den sie dafür zu zahlen haben.
Freitag, 31. Dezember 2010