Katharsis
Carl Schmitts politische Theologie impliziert eine unorthodoxe Lesart der Aristotelischen Katharsis, die entsprechend nicht den Sinn hat, den Helden dazu zu bringen, seine Schuld einzusehen und anzuerkennen, sondern den, die Unbegreifbarkeit seiner Opferung mit der Unumgänglichkeit des Opferns in einen blinden Zusammenhang zu bringen. Es geht darum, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Unbegreifbarkeit des Schuldspruchs das Einzige ist, das den Einzelnen mit dem Kollektiv zuverlässig verbindet.
Die griechische Tragödie handelt nicht etwa, wie man uns in der Schule mit Berufung auf Lessing weismachen wollte, von dem Konflikt zwischen Pflicht und Neigung, sondern von der konzertierten Aktion der Allgemeinheit und dem rettungslosen Verlorensein des Einzelnen, die einander in unbegreifbaren und unauflösbaren Ausnahmesituationen unvermittelt und rätselhaft gegenübertreten, indem sie auseinandertreten. Die Isolierung und Exklusion des Einzelnen und das provozierte Spontan-Kollektiv sind zwei Spaltprodukte derselben Explosion. Ein solcherart abgeklärter Katharsis-Begriff geht dabei hinter die oberflächlichen Erklärungsmuster von Schuld und Sühne, Verbrechen und Strafe, Gesetz und Übertretung zurück, da deutlich wird, daß der fragliche Vorfall mit Mitteln der Ethik nicht restlos zu klären ist. Moralische Erklärungen haben in dieser Situation ihre fraglose Geltung verloren und ihren Schutzcharakter eingebüßt. Die blinde Aktion der Allgemeinheit, die vom Einzelnen, wie etwa von Antigone, mit sprachlosem Entsetzen registriert wird, ebenso wie die Verlorenheit des Einzelnen, die vom Ankläger als Starrsinn wahrgenommen wird, tragen den Charakter des Fluches.
Katharsis hat demnach nicht den Sinn, mitleidend aber streng vom rechten den Weg abgerirrten Einzelnen zu Einsicht und Verantwortungsgefühl zu leiten und somit die Übereinstimmung des Einzelnen mit der Gemeinschaft wiederherzustellen oder zu stabilisieren, sondern den, die nicht tilgbare Irritation zu dramatisieren und als Problem der Interaktion auszuweisen und den Einzelnen so erkennen zu lassen, daß jeder andere ebenso an der Stelle des unglücklichen Helden stehen könnte. Katharsis kann dem Einzelnen helfen, das Unfaßbare zur Kenntnis zu nehmen, daß das Kollektiv, dem er angehört und angehören will und mit dessen Schutz er rechnet, auf den er ein Anrecht zu haben überzeugt ist, genau die Instanz sein kann, die ihn ohne die Möglichkeit der Gegenwehr vernichtet, ohne daß jemand abschließend sagen könnte, wie es dazu kommen konnte und wer daran schuld gewesen sein mag, wo überhaupt der Fehler lag. Katharsis macht mich mit dieser Grenze und diesem Abgrund vertraut als etwas, mit dem man niemals vertraut werden kann. Das Beispiel der jeweiligen Tragödie konfrontiert uns mit diesem absolut Unverstehbaren, mit diesem Jenseits allen Verstehens, das die menschliche Existenz begründet, in der Gesellschaft aller anderen als Zuschauer. Hölderlins bemäkelte Übersetzung der “Antigonä” bringt dieses Moment ungeschminkt zur Geltung. Heinrich von Kleist und Kafka haben die Tragik in die Neuzeit gerettet.
Katharsis dient nicht zuerst der Allgemeinheit, denn die Gemeinschaft muß für die Subjektivität der Wunde blind bleiben, die sich in ihrem Innern auftut. Ihre Mitglieder müssen in Durkheim’scher Bewußtlosigkeit wie weiße Blutkörper an deren Verschließung und Eingrenzung arbeiten. Sie dient auch nicht dazu, den Einzelnen als Mitglied des Kollektivs zu bestätigen, sondern dem Einzelnen aufgehen zu lassen, daß das Einzige, daß ihn mit dem Kollektiv verbindet, die Möglichkeit ist, unvermittelt von diesem ausgeschlossen und vernichtet zu werden. Kleist fragte sich in Würzburg erschrocken, warum das Gewölbe nicht einstürzt, und er kommt zu der Erkenntnis: “Es steht, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen.” Der Einzelne kann dieses Zusammenhangs inne werden, aber er läßt sich als persönliche Erfahrung nicht kommunizieren. Der Einzelne kann nur an dessen kollektiver Nichtwahrnehmung partizipieren. Derart kommuniziert er, ohne zu kommunizieren.
Freitag, 31. Dezember 2010