Horde
Wenn wir lachen, gähnen oder erröten, dann mag sich in solchen rätselhaft kollektiven, “ansteckenden” Phänomenen das Horden- oder Herdenwesen als unsere eigentliche Natur offenbaren. Für Gilles Deleuze und Felix Guattari sind wilde Tiere - auch wenn sie allein sind - immer Vielheiten oder Mannigfaltigkeiten, denen menschliche Liebkosungen ebenso fremd sind wie menschliche Klassifikationen. Das Tier-Werden vollzieht sich für Deleuze/Guattari immer im Rudel und ist mit Ansteckung verbunden. Es ähnelt so einer epidemischen Krankheit und trägt durchaus dämonische Züge. "Es gibt immer einen Pakt mit dem Dämon, und der Dämon erscheint manchmal als Anführer der Bande, manchmal als Einzelgänger neben der Bande und manchmal als höhere Macht über der Bande." Der Dämon kann aber auch in die "Anonymität der kollektiven Aussagen der Bande" absinken und sich in ihr verlieren. Wappentier ihrer Theorie ist der Wolf, den es – der Redewendung vom einsamen Wolf zum Trotz - nur im Rudel gibt. Zu Wölfen siehe auch Neil Jordans „Zeit der Wölfe“, Alexandre Dumas „Le Meneur de Loups (Anja Sattelmacher), und nicht zuletzt die Träume von Sigmund Freuds „Wolfsmann“. Doch jedes nicht gezähmte Tier bewegt sich mehr oder weniger zwischen jenen beiden möglichen Positionen.
Wenn Deleuze und Guattari in ihren „Tausend Plateaus“ vom Tier-Werden reden, handelt es sich primär um eine Schreibposition. Sie finden ihre Beispiele für ein "tatsächliches Tier-Werden" bei Herman Melville, D.H. Lawrence oder Franz Kafka. Bei Letzterem finden sich Tiererzählungen in auffälliger Häufigkeit. Man denke an “Die Verwandlung”, “Forschungen eines Hundes”, “Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande”, “Josephine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse”, “Ein Bericht für eine Akademie”, an “Der Bau”.
Gewohnt sind wir an dergleichen von Kindes beinen an durch die Märchenlekture. Das fatale Paar aus Wolf und Katze, das durch die Märchen eine Spur der Verwüstung zieht, findet sich wieder in Robert Musils “Drei Frauen”, mit geringer Abwandlung im „Pinocchio“. Affen und Pferde finden wir bei Jonathan Swift, in “Gullivers Reisen” (4. Teil: Eine Reise in das Land der Houyhnhnms). Affen tummeln sich auch bei E. T. A. Hoffmann: in: „Nachricht von einem gebildeten jungen Mann“, in der Sammlung „Fantasie- und Nachtstücke“; bei Wilhelm Hauff: Der Affe als Mensch. in der Geschichte vom „Kalif Storch“, auch in einem Jugendwerk von Gustave Flaubert „Quidquid volueris“, bei E. A. Poe: Die Morde in der Rue Morgue. Im „Don Quijote“ unterhalten sich Rosinante und der Esel Sancho Pansas. Zwei Hunde, Cipión und Berganza, die Wachhunde des Auferstehungshospitals, werden bei einem Gespräch belauscht in Miguel de Cervantes Exemplarischen Novellen, auf die E. T. A. Hoffmann zurückgriff für seine „Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza“ (Fantasie- und Nachtstücke). (Vgl. Horst Woldemar Janson: Apes and Ape Lore in the Middle Ages and the Renaissance. London 1952, Kapitel X.)
"Ich habe es satt, mir von Tieren, die bloß andersartig sind, dauernd sagen zu lassen, daß es so ein Tier nicht gibt. Wenn ich eine Giraffe bin, und die Durchschnittsengländer, die über mich schreiben, nette, manierliche Hunde sind, dann ist klar, daß die Tiere verschieden sind." Dies schrieb D. H. Lawrence. In seinem Zorn ist die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier aufgehoben. Tiere sind wir alle: er selbst ist die Giraffe, die Kritiker sind die Schoßhündchen. Die Trennungslinie verläuft für Lawrende nicht zwischen Menschen und Tier, sondern zwischen dem wilden Tier und dem possierlich gezähmten Haustier. „Der Mensch ist das Haustier der Sprache“, sagte Jacques Lacan. Derrida rief aus: „Tier, was für ein Wort!“ Agamben denkt die Aufhebung der Differenz von Animalischem und Humanem vom letzten Tag her. Die am Ende der Zeiten wieder zusammengeführten Menschen und Tiere in einer Illustration des messianischen Gastmahls der Gerechten, die auf einer Miniatur einer hebräischen Bibel des 13. Jahrhunderts eindeutig mit tierischem Antlitz dargestellt sind, könnten auch auf die Versöhnung des Menschen mit seiner eigenen tierischen Natur und auf eine neue Form der Beziehungen zwischen Menschen und Tieren hindeuten. (Giorgio Agamben: "Das Offene. Der Mensch und das Tier". edition suhrkamp, Frankfurt/M. 2003)
Wenn man solchen Literaturhinweisen nachgeht, kehrt sich schleichend die gewohnte Optik um. Nicht das Individuum ist gefährdet durch das Aufgehen uns Sich-Verlieren in der Horde, sondern das Individuum stellt den Sonderfall der Horde dar, eine Abnormität. Wenn man erlaubt, das Tierwerden als etwas zu begreifen, das dazu verhelfen kann, daß sich der Mensch seiner vorgängigen, über seinen Körper vermittelten Vergesellschaftung innewerden kann, dann läßt sich am Begriff des Individuums das Verlorengehen jenes Innewerden-Könnens ablesen. Plötzlich versteht man Foucaults Idee des Herrschens durch Individualisierung: „Nach dem Studium der Wahrheitsspiele in ihrem Verhältnis zueinander [...] schien sich mir folgende Arbeit aufzudrängen: das Studium der Wahrheitsspiele im Verhältnis seiner selber zu sich und der Konstitution seiner selber als Subjekt – im Einzugsbereich dessen, was man die ‚Geschichte des Begehrensmenschen’ nennen könnte.” (GdL 12f) „Es sind Kämpfe, die den Status des Individuums infragestellen: Einerseits behaupten sie das Recht, anders zu sein, und unterstreichen all das, was Individuen wirklich individuell macht. Andererseits bekämpfen sie all das, was das Individuum absondert, seine Verbindungen zu anderen abschneidet, das Gemeinschaftsleben spaltet, das Individuum auf sich selbst zurückwirft und zwanghaft an seine Identität fesselt (…) Diese Kämpfe sind nicht im engeren Sinne für oder gegen das ‚Individuum’ gerichtet, sondern eher Kämpfe gegen das, was man ‚Regieren durch Individualisieren’ nennen könnte.” (SM 246)
Zum gesellschaftsvergessenen Begriff des Individuums siehe auch Georges Bataille: „Die plethorischen Augenblicke, in denen die Tiere ihrem sexuellen Fieber preisgegeben sind, stellen Krisenmomente ihrer Vereinzelung dar, in diesen Momenten überwinden sie die Furcht vor dem Tode und vor dem Schmerz. In diesen Augenblicken wird plötzlich das Gefühl einer relativen Kontinuität zwischen Tieren derselben Art wieder gestärkt, ein Gefühl, das im Hintergrund zwar ununterbrochen, aber ohne wirkliche Folgen einen Widerspruch zur Illusion der Diskontinuität aufrechterhält.“ (Bataille, Der heilige Eros)
„Abschließend könnte man sagen, daß das politische, ethische, soziale und philosophische Problem, das sich uns heute stellt, nicht darin liegt, das Individuum vom Staat und dessen Institutionen zu befreien, sondern uns sowohl vom Staat als auch vom Typ der Individualisierung, der mit ihm verbunden ist, zu befreien. Wir müssen neue Formen der Subjektivität zustandebringen, indem wir die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen.” (SM 250)
Samstag, 1. Januar 2011