Krimi
Wer hat das eigentlich aufgebracht, daß der Detektiv clever sein muß. Cleverer als alle anderen? Wer ist verantwortlich für die fixe Idee, daß der Detektiv mit der Aufklärung eines Verbrechens dank seines klaren Verstandes die Welt wieder einrenkt, sie von ihren Gebrechen heilt? Wer hat es zu verantworten, daß wir den Verstand derart überschätzen? Was soll das überhaupt sein, ein klarer Verstand? Als Kandidaten kommen naturgemäß in erster Linie die Gründerväter des Kriminalromans, nämlich Doyles Sherlock Holmes sowie Poe’s Dupin in Frage. Aber hat man die richtig gelesen? Haben sie eine solche Interpretation wirklich verdient?
Wenn wir diesen Fragen nachgehen und nach dem Ursprung dieser folgenreichen Annahmen forschen, die möglicherweise auf einem Mißverständnis beruhen, stoßen wir unweigerlich auf erkenntnistheoretische Überlegungen von Charles Sanders Peirce, den Doyle seinen Holmes fast wörtlich zitieren läßt. Das Herzstück der pragmatischen Wissenschaftstheorie, die Charles Sanders Peirce entwickelte, ist der abduktive Schluß. Die Abduktion ist der "Prozeß, eine erklärende Hypothese zu bilden". Sie ist der erste Schritt des Argumentationskette, gefolgt von Deduktion und Induktion, welche die abduktiv aufgestellten Hypothesen logisch und empirisch überprüfen. Abduktives Folgern ist ein Gedankenspiel, das der eigentlichen logischen Operation vorangeht und deshalb häufig vernachlässigt wird. Das abduktive "Erfinden einer plausiblen Erklärung" bildet aber die Basis sowohl des wissenschaftlichen als auch des detektivischen Denkens.
Die Abduktion schließt von einer gegebenen Wirkung auf eine hypothetische Ursache zurück. Sie bezeichnet also nicht den Schluß von einer Ursache auf die Wirkung, sondern die Vermutung, daß eine gegebene Wirkung eine bestimmte Ursache haben könnte. Sie dient der Identifikation von Zeichen, die noch keine Symbole sind und auch nicht Anzeichen, sondern bloße Spuren. Sie dient der Identifikation von Spuren, dem Ergänzen von Fragmenten, der Information über Ursachen und dem Erschließen der Intentionen und Gesetzmäßigkeiten eines Diskurses oder Tatsachenkomplexes. Voraussetzung für das Gelingen einer Abduktion ist ein detektivischer Spürsinn fürs Relevante, ein "Rate-Instinkt", der, einer Kompaßnadel gleich, bei der Selektion von möglichen Hypothesen in die richtige Richtung weist, sofern der angeborene Instinkt ausreichend geschult und geschärft worden ist. Der aber nicht in die richtige Richtung weisen muß, da wir voller Vorurteile sind, gerade wo wir uns etwas auf unseren gesunden Menschenverstand einbilden, und die menschliche Wahrnehmung höchst unzuverlässig ist. Aufgrund seiner Vorurteile und dank seiner Einbindung in einen kulturellen Kontext neigt jederman instintiv zu typisch falschen Hypothesen, und er muß sich immer wieder zwingen, sie über Bord zu werfen. Er muß sich bei solchen Rekursen ertappen können. Ein Detektiv, der sich in besonderem Maße von seinem Spürsinn leiten läßt und dessen Hypothesen für andere besonders gravierende Konsequenzen haben können, muß sein potenzielles Sich-irren-können höher bewerten als die sich zumeist als voreilig erweisende Illusion, das Rätsel bereits gelüftet zu haben. In den meisten Kriminalromanen wird denn auch das Abduzieren dem Gehilfen überlassen. Wenn für diesen der Fall bereits gelöst ist, hält sich der Meisterdetektiv eigentümlich zurück. Die Lösung erscheint ihm zu einfach, zu offensichtlich. Das wird ihm von den erfolgsorientierten Kollegen und vom Staatsanwalt übel genommen und führt bei Kommissaren von Mordkommissionen nicht selten dazu, daß ihnen der Fall entzogen wird.
Bei Pierce erscheint das detektivische Denken als innerer Dialog, als "stilles Gespräch der Seele mit sich selbst". Bei Doyle und seinen Nachfolgern ist dieser Dialog leserfreundlich zu einem zwischen mindestens zwei ungleichen Personen geworden. Damit ist das detektivische Denken aber nicht mit der Konsensbildung in der Alltags-Kommunikation identisch. Dieser gegenüber hat es nämlich den Vorteil, daß nicht nur die Resultate der Konstruktion, sondern auch die Konstruktionsverfahren selbst sichtbar und thematisierbar gemacht werden.
In Poes Geschichte geht es vordergründig um die Überführung eines Täters. In Wahrheit aber geht es darum, Vorkehrungen zu treffen, voreilig Verdächtigte zu schützen und die Sensibilisität für die Möglichkeit zu erhöhen, daß der geäußerte Verdacht sich auf etwas gründet, das nur den Anschein eines Indizes hat, wie lückenlos dieser Anschein auch immer sein mag. Dieses Geschäft nehmen übrigens nicht nur Krimi-Autoren im engeren Sinn wahr. Auch Autoren wie Kleist haben es sich zueigen gemacht, etwa in der „Marquise von O.“ oder im „Michael Koolhaas“. Auch in Umberto Ecos Romanen geht es um eben das Spannungsverhältnis von Plausibilität und Wahrheit, das dem abduktiven Schließen inhärent ist, um die Differenz von Denkwelt und Tatsachenwelt.
Poes Kommissar läßt sich keine Nachlässigkeit zu schulden kommen. Nichts, was er nicht versucht hätte. Er ließ Schränke auseinander nehmen, die dank sinnreicher Mechanik Geheimfächer und doppelte Böden bergen könnten, Stuhlbeine durchsägen, weil sich in den Hohlräumen ein Schriftstück gut verstecken ließe. Es ist gerade sein erbitterter Anspruch auf Perfektion, was ihn behindert, sein allzu zielstrebiges Voraneilenwollen bei der Lösung eines Falls, womit er sich selbst im Wege steht. Dupin demonstriert wie Holmes, daß die Detektiv-Arbeit vor allem in der systematischen Falsifikation von Hypothesen besteht, darin also, sich dessen bewußt zu werden, wie frustrierend dies auch immer sein mag, schon wieder einem Vorurteil aufgesessen sein zu können.
Hier wird zwar das Perfektionsideal nur auf eine andere Ebene verschoben - Cleverness beweist sich nur auf eine andere Weise - doch öffnet diese Verschiebung zugleich auch den Blick auf ein ganz anderes Modell des Detektivs. Dieser ganz andere Typus Detektiv wäre imstande, seine Fälle zu lösen, obwohl oder noch besser: weil er sich dumm anstellt, weil er immer wieder den Faden verliert, weil er trotz überragender intellektueller Potenz nicht durchblickt, weil er alles falsch macht. Wäre ein solcher Anti-Detektiv der chaotischen Realität nicht weitaus angemessener? Wir tun uns schwer damit, den Anti-Detektiv überhaupt zu denken. Nichtsdestotrotz gibt es ihn bereits. Er ist verkörpert in Don Isidoro Parodi, dem Helden der Detektivgeschichten von Jorge Luis Borges, die eine "karnevaleske Welt" des detektivischen Schlußfolgerns beschreiben. Parodi löst seine Fälle von der Gefängniszelle Nr. 273 aus, in der er sitzt, weil er angeblich einen Metzger umgebracht hat. Doch diese ungünstige Ausgangsposition beeinträchtigt Parodis detektivische Arbeit in keiner Weise. Er findet seine Spuren und Indizien in den geschwätzigen Erzählungen seiner Klienten, die ihn völlig unbehindert und "in pittoresker Fülle" besuchen. Man fragt sich, warum Parodi ausgerechnet jene Informationen herausgreift, die ganz offensichtlich irrelevant sind. Seine instinktive Wahl bei der Auswahl von Informationen ist rational nicht nachvollziehbar. sie wirkt zufällig. Um im Universum irrelevanter Geschwätzigeit lesen zu können, braucht Parodi eine Eigenschaft, die diese Erzählungen zu "ironischen Spiegelbildern" richtiger Detektivgeschichten macht, einen Spürsinn fürs Irrelevante und Inkohärente. Seine Abduktionen und Konjekturen gelingen, weil die Unordnung und Zusammenhanglosigkeit seiner Ideen mit der Unordnung und Zusammenhanglosigkeit der Dinge koinzidiert.
Im 97. Kapitel von Cortázars Roman „Rayuela“ wird eine Notiz eines gewissen Morelli erwähnt, in der dieser von einer absurden und inkohärenten Form des Schreibens träumt, die dementsprechend einen Leser verlangt, der in der Lage ist, mit dieser Inkohärenz fertig zu werden. "Diesem Leser wird jede Brücke fehlen, jedes Zwischenglied, jede kausale Verbindung. Die Dinge im Rohzustand: Verhaltensweisen, Resultate, Brüche, Katastrophen, Lächerlichkeiten".
Schauen wir uns in dem Licht dieser Umkehrung der etablierten Vorstellung vom Sinn und Wesen des Kriminalromans auch die Beispiele noch einmal genauer an, die wir für Belege der Notwendigkeit von Cleverness hielten. In E. A. Poe’s Prototyp „Der entwendete Brief“ liegt die Lösung von Anfang an auf dem Tisch. Die Kunst des Autors und der Leser als unfreiwillige Mitarbeiter besteht nicht darin, möglichst schnell nach dem Brief zu greifen, sondern dies auf unterhaltsame Art zu vermeiden und möglichst lange hinauszuzögern. Der törichte Kommissar führt vor, was einem alles einfallen kann, um den Fokus der Aufmerksamkeit nicht gleich auf die Hauptsache zu richten, sondern vorher noch sämtliche Nebensachen und Sackgassen abzuhaken. Der Kriminalroman zeigt hier seine wahre Natur als mit jedem neuen Exemplar wieder neu aufzufüllendes Reservoir von Marginalisierungsstrategien. Der Autor muß erzählen, ohne zu erzählen. Das erzählen muß im Vermeiden des Erzählens bestehen. Die Lösung muß so lange wie möglich hinausgezögert werden. Die Lösung ist der verbotene Gedanke. Die Geltung des Tabus muß so lange strapaziert werden, bis sie so weit abgeschwächt ist, daß das Erraten oder Verraten des Geheimnisses nicht mehr übel genommen wird. Urbild allen Erzählens ist die Märchenserie der Scheherezade aus den „Märchen aus 1001 Nacht“, die ihre Geschichten einem Mächtigen erzählt, der sie bedroht und dessen Vorhaben, sie zu töten sie nur hinauszögern kann, indem sie ihn durch Spannung ablenkt und bei Laune hält. In gewisser Weise handelt jeder narrative Text von dem durch Erzählen aufgeschobenen Tod. Der Kriminalroman tut dies auf eine spezifische Weise, die verdeckt wird durch die fixe Idee, daß der Detektiv ein Ausbund an Cleverness sein müsse, nämlich durch das Verüben und Anhäufen von Morden. Morde verzögern den Tod. Diese fixe Idee ist ein kollektiver Abwehrmechanismus, vielleicht der zentrale und wirksamste überhaupt.
Samstag, 1. Januar 2011