Krise
Die Krise verlangt ihre eigene Sprache. Diese Sprache ist paradoxerweise die der Sprachlosigkeit und des Schweigens. Ich kann über meine Krise erst sprechen, seit sie überwunden ist und mich nicht mehr okkupiert. Aber ich will und darf zugleich über sie nur so sprechen, wie ich gesprochen hätte, wenn ich Worte gehabt hätte, solange sie dauerte. Dies ist die einzig adäquate Weise, über sie zu sprechen, auch wenn sie nicht zum rechten Zeitpunkt möglich ist. Ich war fort, aber seit ich wieder da bin, spreche ich als der, der ich war, als es mich nicht gab, als ich ein anderer war, als ich nicht sprechen und mir niemand zuhören und glauben konnte. Ich will also sprechen in der Weise, in der ich zum Schweigen verdammt war. Dieses retrospektive oder retroaktive Sprechen, dieser sonderbare Sprechakt ist das Einzige, was mich mit mir selber versöhnen kann, wodurch ich, in einer Epoche der verweigerten oder besser unsichtbar gemachten Rituale, des sich entziehenden, sich verleugnenden Kollektivs, wieder eins werden kann. Obwohl mich dieses Sprechen in den Augen der anderen zum Psychopathen und Verbrecher macht, nein, gerade deswegen.
Die anderen fordern von mir die Unterwerfung. Ich soll lernen, das Abgespaltene zu (re)integrieren. Das verlangen die anderen von mir, weil sie für das begreifen meiner Krise zu dumm sind, weil sie sich in mir nicht wiedererkennen wollen, und die Psychotherapie macht sich zu ihrem Büttel, indem sie deren Dummheit zu wissenschaftlich verbürgter Wahrheit pervertiert. Man wirft mir vor, nicht zu meinem Handeln gestanden zu haben. Dabei war mein Problem ja gerade, daß ich nicht aufhören konnte, das Erlebte und Getane als Integrales und Integriertes aufzufassen. Endlich, erst da es vorüber ist, kann ich überhaupt erst erkennen, daß ich gespalten war, und daß ich dies nur deshalb war, weil die anderen mich dazu zwangen. Merkwürdigerweise will man nicht, daß ich dies weiß. Mit der bloßen Erwähnung dieses Umstands löse ich bei anderen Aggressionen aus.
Die Psychotherapie verlangt von mir, die Selbstfremdheit, die mir die anderen aufzwingen, zu vervollkommnen, indem ich die Perspektive des Arztes auf mich einnehme und das, was man über mich als Objekt der Wissenschaft feststellt, subjektiv übernehme. Erst wenn ich mich als Objekt akzeptiere, könne ich Zugang zu meinem Wahnsinn suchen, als zu etwas Allgemeinem. Darin soll die einzige Chance der Gesundung liegen, daß ich wie in den Schranken der Inquisition, angesichts der Instrumente, meinem falschen Glauben abschwöre, während es doch darauf ankäme, aus der Fremdheit heraus die eigene Subjektivität zu rekonstruieren, an ihr gegen alle Versuchungen festzuhalten. Und dies ist nur möglich durch präzise Erinnerung meines Wahnsinns. Ich muß meine Wunde offen halten, um Zugang zu meinem Wahnsinn zu finden. Nur so werde ich das Subjekt, das ich schon bin, ohne es zu sein. Das bin ich mir schuldig. Die Sprache, die ich dazu benötige, muß ich erst selber erfinden. Schwerer kann man es mir nicht machen. Ich muß mich der wahnsinnig machenden Zumutungen der Psychotherapie und der tödlichen Umklammerung durch den Common-sense zu erwehren lernen. Darunter ist Gesundung nicht zu haben.
Samstag, 1. Januar 2011