Lärm

 

Lärm vereinzelt. Wer sich über Ruhestörung beschwert, gerät automatisch in den Verdacht, überempfindlich zu sein und zum Nörgeln zu tendieren, übelgelaunter Spielverderber und vergnügungsfeindlicher Griesgram und Stimmungstäter zu sein. Vor allem Musikhören und Lautsein gelten als Ausdruck von Lebensfreude. Während bei einem Verkehrsunfall oder einem strafrechtsrelevanten Delikt der Verursacher oder Täter beschuldigt werden, ist es bei Lärmstörung umgekehrt. Der Kläger muß sich gegen die Erwartung wappnen, sich schämen zu müssen, und gegen den Generalverdacht behaupten, die Klage ohne triftigen Grund vorzubringen. Er sieht sich dem mehr oder weniger expliziten – aber auch als inexpliziter nicht weniger massiven - Vorwurf ausgesetzt, mit dem Anspruch auf eine Extrawurst und das Vitalitätsbedürfnis der Menschen und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gemeinschaft über Gebühr zu strapazieren. Mich würde das nicht derart stören. Ist der aber empfindlich. Das sind die Standardsprüche der anderen, mit denen sie sich ihrer eigenen Position im Konsensgefüge versichern. Dabei ist man heilfroh, nicht selbst betroffen zu sein und verdrängt diese Möglichkeit, selber in diese Lage zu geraten. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Der Musikliebhaber oder Kneipenwirt, der über die hierzulande umsichgreifende Nörgelei klagt, würde sich dergleichen in der unmittelbaren Nachbarschaft seiner Privatwohnung strengstens verbitten.

In dem Moment, da ich mich von Lärm terrorisiert fühle und unter diesem Terror leide, beschleicht mich denn auch die nur allzu begründete Furcht, meine Not könnte nicht ernst genommen werden und mein Protest auf mich selbst zurückgewendet werden. Ich weiß zwar, daß jeder von ihnen, wenn er an meiner Stelle wäre, sich genauso gestört fühlen würde und genauso in die Enge getrieben wie ich, und auch die anderen wissen dies eigentlich, doch vermag niemand sich dies einzugestehen und kann ich diese Tatsache nicht für mich reklamieren. Ich muß erleben, daß alle anderen, die von dieser Störung nicht betroffen sind, davon überzeugt sind, sich selbst nicht so anzustellen, wie ich es tue. Da jeder dieselbe Angst davor hat wie ich, mit der Beschwerde nicht durchzukommen, und die Ohnmacht verspürt, die mit einer solchen Lage unweigerlich verknüpft ist, muß man die Möglichkeit, selbst betroffen zu sein, um jeden Preis abwehren. Wer von Lärm etwa in Form nächtlichen Dauer-Hundegebells oder alltäglicher Zwangsmusik in Kirmeslautstärke betroffen ist, gerät zwangsläufig in Panik, was zu vermehrter Adrenalin-Ausschüttung führt, die den Körper schwächt und einen mit Nervosität gepaarten Erschöpfungszustand hervorruft, was wiederum die Angst vor Isolierung verstärkt und alptraumhafte Visionen von Psychiatrisierung und Stigmatisierung wachvorruft.

Gesetze, die den Einzelnen von Lärm-Exzessen schützen sollen, kranken daran, daß bei ihrer Anwendung eine Beurteilung der Lärmintensität durch zeugen erfolgen muß, die nicht selbst betroffen sind. So kann es nicht nur passieren, sondern ist es die Regel, daß die Entscheidung von jemandem abhängig ist, der seine Verdrängungsleistung zum Maßstab nimmt, während obwohl für den Betroffenen seine Wohnung unbewohnbar geworden ist und er sich vor die Alternative gestellt sieht, auszuziehen und alle finanziellen, zeitlichen und emotionalen Investititionen in die Wohnlichkeit abzuschreiben oder den Lärmverursacher umzubringen. Die sich zu entscheiden berufen fühlen, sind diejenigen, die in pathetischer Weise nicht betroffen sind und sich infolgedessen für nicht derart empfindlich halten, und die gerade darum objektiv urteilen zu können meinen, die sich einer Objektivität verpflichtet fühlen, die es zu erwägen verlangt, ob der Beschwerdeführer nicht eigentlich das Ziel verfolgt, den Nachbarn anzuschwärzen und zu randalieren, so daß sich die Blickrichtung vollständig umkehrt.

Wenn ich bei der Lektüre von Simenons Maigret-Romanen oder beim Betrachten von Filmen mit Jean Gabin in eine Welt eintauche, in der es noch keine Musikanlagen gab und noch nicht jeder zur potentiellen Quelle von nackter Verzweiflung und Mordgedanken induzierender Zwangsmusik mit alle Wände durchdringenden und direkt in die Bauchdecke fahrenden Bässen geworden ist, kommen mir die Tränen.

Wie könnte dem Mißstand abgeholfen werden? Es kann nicht sein, daß die Beweislast bei dem liegt, der sich über Lärm beschwert. Die Produktion von Anlagen, die das Potenzial haben, andere zu terrorisieren, muß gestoppt werden. Der Verkauf von Musik-Wiedergabegeräten müßte generell an den Erwerb eines Zertifikats ähnlich dem Führerschein oder dem Waffenschein geknüpft sein. Die Vermietung oder der Verkauf einer Wohnung muß vom Besitz ebendieses Waffenscheins abhängig gemacht werden. Es muß sich von selbst verbieten, Musik lauter als in Zimmerlautstärke und bei geöffnetem Fenster zu hören. Sobald ein Nachbar meine Musik mithören muß, ist sie zu laut. Für die ausnahmsweise Emission von Musiklärm muß das Einverständnis der Nachbarn eingeholt werden. Das Einverständnis muß jedesmal erneut eingeholt werden, da man eine Erlaubnis nicht pauschal erteilen kann. Dem potenziell Gestörten kann nicht zugemuten werden, sich beschweren zu müssen. Denn wer sich beschweren muß, der hat nicht nur die Belästigung und die Adrenalinausschüttung, findet nicht nur keinen Schlaf, sondern er muß sich auch die Zeit stehlen lassen, sich auf den Weg zu machen, die Lärmquelle zu lokalisieren und den Verursacher aufzusuchen, ihn zu stören, die Polizei zu rufen, auf deren Erscheinen warten, den Beamten den Weg zeigen, ein Lärmprotokoll anzufertigen, zur entsprechenden Behörde zu gehen, um sich dort sagen zu lassen, daß objektiv gesehen Aussage gegen Aussage stehe etc.

Wer davon betroffen ist, wer diese Höchststrafe für die Entscheidung für einen Wohnort erleiden muß, der wohnt gegen seinen Willen einem soziologischen Experiment bei, in dem die Verdängungsleistungen der Mitmenschen eruiert werden. Er muß sich ungefragt Ratschläge anhören, wie: Geh doch zur Polizei. Mach deine Musik doch ebenso laut. Und er macht die verstörende Erfahrung, daß es nicht möglich ist, anderen Menschen eigene Erfahrungen mitzuteilen. Für Wallraff ist es witzlos, einen Afrikaner zu befragen, wie es sich so in der Bundesrepublik lebt? Er hält es, so wie er die Menschen und sich selber kennt, für nötig, sich selbst als Afrikaner unters Volk zu mischen. Er weiß, „da gibt es Grenzen der Kommunikation“. Er ist davon überzeugt, daß man gewisse Dinge selbst erlebt haben muß, um zu begreifen. Es ist freilich die Frage, ob Wallraff mit seinen authentischen Erfahrungsberichten in Büchern andere Menschen erreicht, die die fraglichen Erlebnisse ja immer noch nicht selber hatten.

Der Rechtsweg steht mir als Lärmgeschädigtem jederzeit offen. Allerdings kostet, ihn tatsächlich zu beschreiten, mehrere tausend Euro für den Rechtsanwalt, die Zeugenbefragungen, und das Gericht. Die Sache kann sich über Monate hinziehen, und der Erfolg bleibt fraglich. Der Geschädigte ist in jedem Fall auch der Betrogene. Wenn mir die Brieftasche mit Führerschein und Kreditkarte geklaut wird, muß ich als der Beklaute Gebühren zahlen für die Ersatz-Ausweise, und die Prozedur kostet viel Zeit und Nerven. Der Täter ist immer besser dran. Allen gesetzlichen im Nachbarschaftsrecht festgelegten Regelungen zum Trotz ist der Betroffene faktisch machtlos.

Wenn einem ein Ausweis verloren geht oder gestohlen wird, oder wenn ein Handy wenige Tage nach Vertragsverlängerung und nach Ablauf der Garantiezeit seinen Geist aufgibt, dann zieht sich die Überprüfung in die Länge, weil die Verantwortlichen einem nicht glauben, der zu sein, der man vorgibt zu sein. Nicht diejenigen, die den Mißbrauch begehen, werden an ihren Gaunereien gehindert und für sie bestraft, sondern mit Hinweis auf zunehmenden Mißbrauch und zum Schutze des Kunden werden die rechtmäßigen Eigentümer der Identität des versuchten Betrugs verdächtigt, indem man ihnen nicht glaubt, daß sie sie selbst sind. Die Strafen, die den Gaunern gelten, erfährt der Begaunerte am eigenen Leib.

Die Lärm-Problematik verlangt einen anderen Blick auf Architektur. Urbanität und Wohnqualität mögen abhängig gedacht werden von der Qualität der Architektur und der Landschaft, von dem Viertel oder der Inneneinrichtung, all das ist jedoch nichts wert, wenn es dem Nachbarn nicht gefällt. Sämtliche Kriterien werden entwertet, wenn die Freiheit von Lärmterror nicht gegeben ist. Sobald es in der Nachbarschaft jemanden gibt, der mit lauter Musik oder bellenden Hunden das Leben der Mitbewohner der Gegend zur Hölle und die Wohnung unbewohnbar macht.

Lärm ist in eine Situation eingebettet, schafft eine Situation um sich herum, deren interaktive Struktur einer Person zu abslouter Macht verhilft und einen anderen oder mehrere andere zur Ohnmacht erzieht. Die Erfahrung mit Lärmbelästigung gleicht dem Ohnmachts-Training, das Martin Seligmann einst mit Tieren veranstaltete. Hunde, die lange Zeit unter Elektroschocks gesetzt wurden, wichen ihnen danach auch nicht mehr aus, wenn sie es ohne weiteres vermocht hätten. Wenn ein Versuchstier im Laufe des Experiments die Erfahrung macht, daß es durch sein Verhalten die Wahrscheinlichkeit einer Bestrafung in keiner erlernten oder erlernbaren Weise beeinflussen kann, dann verfällt es in einen tief depressiven Zustand hilfloser Inaktivität, in eine dumpfe Schicksalsergebenheit. Mit solchen Experimenten zur ,erlernten Hilflosigkeit" wurde Seligmann zum Vorreiter der kognitiven Depressionstheorien. Er schloß aus seinen Experimenten, daß sich aus der erlebten und erlernten Nichtkontrollierbarkeit von Ereignissen chronische Passivität entwickelt. Wenn die Person gelernt hat, daß sie auf Ereignisse keine Möglichkeit der Einflußnahme hat, wird die Erwartungshaltung der Person in einer neuen Situation wieder hilflos zu sein. Aus der Erfahrung der Nichtkontrollierbarkeit persönlich bedeutsamer Ereignisse und der generalisierten Erwartung der Ohnmacht kann eine depressive Verstimmung folgen. Die Erwartung, auch zukünftig hilflos zu sein, ist begründet in der „Ursachenzuschreibung der Nichtkontrolle in sich selbst“. Die betroffene Person macht automatisch sich selbst verantwortlich, indem sie denken muß, daß dies in allen Situationen so sein wird. Diese Hilflosigkeit „gründet in den beziehungsverhindernden Erfahrungen des Lebens“.

(Seligmann (1979). Erlernte Hilflosigkeit. Urban und Schwarzenberg-München-

Wien-Baltimore)

Mit einem Lärm erzeugenden Gerät, etwa mit einer Musikanlage mit Basslautsprechern oder mit einem neurotisierten oder vernachlässigten Hund vor der Tür, besitzt jemand so viel Macht, daß er einen anderen Menschen dazu zwingen kann, seinen gesamten Tagesablauf nach ihm zu richten und sich nur noch mit ihm zu beschäftigen, und ihn mit Schlafentzug nach Belieben zu foltern.

Die Lärmmacher sind die Nachfolger der marodierenden Soldateska, die sich ohne Sold bei der Bevölkerung bediente und alles niedertrampelte. Diese Barbarei geht im allgemeinen Getöse unter, weil heutzutage alles zu laut ist und ein Sinken des als normal empfundenen Lärmpegels als Bedrohung empfunden wird. In der Oper müssen die Sänger gegen ein zu lautes Orchester ansingen. Im Kino wird die Lautstärke für Schwerhörige eingestellt. Wer sich darüber beschwert, gilt als verrückt. Analog ist alles zu süß. Das Bier schmeckt nach aufgeweichten Gummibärchen. Wer Becks entgegen dem Image des herben Bieres unerträglich süß findet, erntet man nur blödes Grinsen.

 

Samstag, 1. Januar 2011

 
 
Erstellt auf einem Mac

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