Lebenskunst
Je gnadenloser uns heute das Beherrschen von Techniken effizienter Selbststeuerung abverlangt wird, obwohl wir immer weniger tatsächlich beeinflussen können, desto besser lassen sich Bücher verkaufen, in denen eine glücklichere, erfolgreichere, effizientere, erfülltere Lebensführung verheißen wird, indem Anleitungen verbreitet werden, Formen des Selbstmanagements einzuüben. In der boomenden Ratgeberliteratur und den zahlreichen Lebenskunst-Fibeln wird totale Ohnmacht mit totaler Verantwortung für sich selbst wahnhaft kurzgeschlossen, als seien beide einunddasselbe. Da es jeder Vernunft spottet, wenn gleichzeitig mit dem Umstand, daß wir auf immer weniger Vorgänge und Entscheidungen Einfluß nehmen können, das Ideal floriert, demzufolge wir zunehmend alles unter Kontrolle haben können und wir uns für alles, was uns gelingt oder mißlingt, glückt oder zustößt, selbst verantwortlich fühlen dürfen, muß diese Koinzidenz oder Konkordanz tiefere Gründe haben. Die kollektive Lust auf Selbstverantwortung und Selbstvermarktung überdeckt alle strukturellen Entwicklungen, mögen sie noch so offensichtlich sein. Diese Lust muß folglich selbst Symptom einer extrem weitgehenden Entmündigung sein, die wiederum gesellschaftlich unabdingbar geworden ist. Was wie Emanzipation aussieht, ist in Wahrheit Einübung in bedingungslosen Gehorsam bei gleichzeitigem Verlernen des Bewußtseins dieser Unterordnung und Selbstaufgabe.
Auf der Grundlage einer solchen Inversion ließe sich eine ganz andere Art von “Lebenskunst“ denken. Wenn unter Lebenskunst gemeinhin verstanden wird, die Affekte beherrschen zu lernen, Fehler aus Unbedachtheit zu vermeiden und die persönliche Kontrollfähigkeit zu optimieren, die eigenen Talente bestmöglich zu verkaufen, erfolgreich Selbst-Management zu betreiben, dann müßte dem die Aufforderung entgegengehalten werden, all dies gerade zu unterlassen und zu vermeiden. Der wahnhaften Lebenskunst im Sinne einer Optimierung wäre die Empfehlung gegenüberzustellen, alles falsch zu machen, Fehler zu begehen, wo immer sich die Gelegenheit hierzu bietet. Man mag das Vorbild hierfür in den satirischen Umkehrungen Seneca’scher Maximen in späthellenistischer Zeit sehen. Man kann es dabei mit einer gnostischen Sekte halten, die Kierkegaard in einem Tagebucheintrag erwähnt. Die Karpokratianer (2. Jh. n. Chr.) nämlich machten sich zur Regel, die Sünde in concreto zu realisieren. Dieser auf die Manichäer zurückgehende und später als häretische Sekte verfolgte Orden lehrte, daß der Mensch alle Taten, selbst die ruchlosesten, begehen müsse. Solange dies nicht erreicht sei, werde man ständig wiedergeboren.
Samstag, 1. Januar 2011