Lesen
Im Verhältnis des Lesers zu seiner Lektüre vollzieht sich der dekonstruktivistischen Literaturwissenschaft zufolge eine Spaltung des Selbst. “Lesen heißt, die Rolle des Lesers zu spielen, interpretieren heißt, eine Leseerfahrung postulieren.” Demnach besteht die Lektüre und Interpretation eines literarischen Werks darin, “sich vorzustellen, was ein Leser fühlt bzw. versteht. Lesen heißt, mit der Hypothese eines Lesers arbeiten, und es gibt immer eine Lücke oder Spaltung im Leseakt,” die der Leser durch einen „Sprung der Vorstellungskraft zu überbrücken gezwungen ist”. “Aber anscheinend haben wir ein Interesse, den Glauben an die Erfahrung als Basis aufrechtzuerhalten und so diese Spaltung zu verdecken oder zu verdrängen.” Die eigene Aktivität wird in ihrer Ausübung sogleich wieder vergessen, im selben Moment, in dem wir als mehr oder weniger latentes Muster die vermutete Ordnung des Werkes identifizieren und an die Oberfläche bringen. Der Spaltungsakt geht unter in der Überzeugung, daß das, was ich lese, im Text eindeutig fixiert sei.
Barthes nannte jene Bereitschaft zum Sprung die “Lust am Text”. Der Lustleser mit seiner Lektürelust ist derjenige, der die Leseneurose zur halluzinierten Form des Textes in Beziehung setzt. Gleich zu Beginn fordert Barthes uns dazu auf, uns ein bizarres Wesen vorzustellen, das sich von der Angst, sich zu widersprechen, befreit hat, das Sprachen miteinander vermengt, die als unvereinbar gelten, und das den Vorwurf des Illogismus stumm erträgt. Die Regeln unserer Institutionen, schreibt Barthes, würden eine solche Person zu einem Außenseiter machen. Wer kann schon ohne Scham im Widerspruch leben? “Nun, dieser Anti-Held existiert: Es ist der Leser eines Textes in dem Moment, wo er Lust empfindet.”
Der Leser spaltet sich in den, der er einzigartig und allein ist, und den, als der er sich im Schutz eines Kollektivs und eines Konsenses befindet. Er ist zum einen derjenige, der der Wahrheit dieser besonderen Person verpflichtet ist, und zum anderen derjenige, der davon durch die Übereinstimmung mit den anderen entlastet ist. Literatur induziert generell diesen Vorgang, bei dem die beiden Momente meines Selbst zueinander in Spannung versetzt sind und von Topos zu Topos versuchsweise wieder harmonisiert und kongruent gemacht werden.
Der Leser hegt die Hoffnung, daß er nach denselben Gesetzen denkt, die den Zusammenhang und die Ordnung des dem Geschriebenen zugrundeliegenden Diskurses regeln. Er gleicht darin dem Detektiv, der hofft, mit seiner Hypothese über den Tathergang den Gedanken seines Täters auf die Schliche gekommen zu sein. Er möchte die diskursive Strategie - diene sie der Entwirrung, oder aber der Verwirrung - entschlüsseln. Mit anderen Worten: Um herauszufinden, wer der Schuldige ist, muß er annehmen, daß alle Tatsachen eine Logik haben, nämlich die Logik, die ihnen der Schuldige auferlegt hat". Die Mitarbeit des Lesers bei der Konstitution des Textes und der Ergänzung diskursiver Leerstellen impliziert Eco zufolge immer auch eine Mittäterschaft. Der Leser ist also Täter und Detektiv zugleich. Einmal überläßt er sich naiv den Sprüngen und Strategien des Diskurses. Dann wieder versucht er herauszufinden, wie ihn der Text zur Mitarbeit und zur Komplizenschaft aufgefordert hat.
Die Rolle des Lesers ist jedoch nicht auf die des Detektivs beschränkt. Wenn wir Proust Glauben schenken, daß jeder Leser, wenn er liest, in Wirklichkeit ein Leser seiner selbst ist, dann ist der Leser zugleich auch selbst der Schuldige. Tatsächlich ist der einzige noch nicht realisierte Detektivroman, (so eine Untersuchung des Pariser Ouvroir de Littérature Potentielle, die Eco erwähnt) derjenige, in welchem der Leser der Täter ist. Eco schreibt dazu: "Ich frage mich, ob dies (...) nicht überhaupt die Lösung ist, die jedes große Buch realisiert".
Jeder Text ist ein Produkt, "dessen Interpretation Bestandteil des eigentlichen Mechanismus seiner Erzeugung sein muß". In diesem Sinne braucht er einen Interpreten, der ihm dazu verhilft zu funktionieren. Jeder Text ist eine "Präsuppositionsmaschine". Er lebt von einem "Mehrwert an Sinn", den der Empfänger erwirtschaftet, wenn er Leerstellen ergänzt und interpretiert.
Die Leerstellen sind, mit Iser zu sprechen, "Appelle" an den Leser, aktiv zu werden. Sie sind "Gelenke des Textes", "Scharniere" der Darstellungsperspektive und erweisen sich dadurch als konstitutive Bedingungen der "Anschließbarkeit". Nach Iser kommt der Anschließbarkeit eine fundamentale Rolle bei der Textbildung zu, weil sich während der Lektüre ein "Geflecht möglicher Verbindungen" ergibt, "deren Reiz darin besteht, daß nun der Leser die unausformulierten Anschlüsse selbst herzustellen beginnt.". Der Leser wird dabei aufgefordert, abduktiv Hypothesen aufzustellen, um Selektions- und Kombinationsmöglichkeiten auszuprobieren. Der Autor hat dabei eine "kohärenzstiftende Funktion”, wie sie auch Foucault in "Was ist ein Autor?" beschreibt.
Leerstellen werden dabei zum Qualitätskriterium für einen Text. Eco betont, daß "lebendige Kunstwerke" offen für neue interpretative und kommunikative Möglichkeiten sein sollen. Anders als für Derrida ist für ihn der Interpretationsprozeß keine führungslose Abdrift, sondern gleicht einer ständigen Pendelbewegung zwischen der "Offenheit" der Rezeptionsmöglichkeiten und der "Geschlossenheit" bzw. Bestimmtheit des Werkes durch seine Struktur. Die Aufgabe der Interpretation eines ästhetischen Textes ist es, "das strukturierte Modell für einen unstrukturierten Prozeß eines kommunikativen Wechselspiels" zu liefern".
Dabei ist die "interne Kohärenz des Textes", also seine diskursive Organisation, der wichtigste Parameter für die Interpretation. Da die Kohärenz des Textes jedoch erst durch die abduktive Mitarbeit des Interpreten konstituiert wird, ist die Textkohärenz unauflöslich mit der "Konsistenz der Hypothesen über den Text" verbunden.
Dem entspricht eine Lektürehaltung, die de Mans Vorstellungen entspricht, denn Dekonstruktion ist für ihn "die Möglichkeit, die Widersprüche der Lektüre in eine Erzählung einzuschließen, die fähig wäre, sie zu ertragen". Es handelt sich um eine Lesehaltung, die weniger wert darauf legt, in den eigenen Vorurteilen bestätigt und beruhigt zu werden, als vielmehr darauf hofft, in ihnen erschüttert zu werden und hinter den sematischen Zurichtungen dem Rohzustand der Dinge näher zu kommen.
Indem der Leser seine Erkenntnisfähigkeiten und Assoziationen in die Lektüre investiert, erwartet er auch, im Fortgang der Lektüre etwas über sich selbst zu erfahren. Dabei will er nicht nur in dem bestätigt werden, was er über die Welt und über sich selbst bereits zu wissen meint. Er will auch daran Korrekturen vornehmen müssen dürfen. Er will aus der Lektüre selbst verändert hervorgehen. Eco wendet dieses Bedürfnis auf den Text zurück, wenn er sagt, daß ein "guter" Text "für seinen Leser zu einem Erlebnis der Selbstveränderung werden" will. Das Erlebnis der Selbstveränderung wäre der Höhepunkt all jener Aktivitäten, die der Leser während seiner Lektüre vollzieht. Ein solches Verständnis der Tätigkeit des Lesens aber widerspricht dem pädagogisch bestimmten etablierten Konzept des Wissens-Fitness.
Samstag, 1. Januar 2011