Negativismus
Unter Negativismus versteht Bleuler, (bekannt durch sein 1911 erschienenes Buch über “Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien”) die Neigung des Patienten, das kontradiktorische Gegenteil dessen zu wollen, oder zu denken, was andere oder sie selbst wollen oder denken. Einer wendet die Augen nach rechts, um etwas zu beobachten, den Kopf aber nach links. Jemand will essen und zugleich nicht essen. Ein Dritter zerstört, was er gerade erarbeitet hat.
In einer einem Vortrag von Bleuler folgenden Diskussion qualifizierte Carl G. Jung den Begriff als “wahrscheinlich eine wertvolle Bereicherung unseres Begriffsschatzes. Im Gleichen kann das Gegensätzliche liegen unter den Ähnlichkeitsmöglichkeiten ist der Kontrast die allernächste. z.B. ist der Fruchtbarkeitsgott auch der Zerstörer. Die Sonne bedeutet Fruchtbarkeit und Zerstörung.”
Einen gewissen Negativismus bescheinigt man dem Autisten. Autismus ist definiert als die “Neigung, die eigene Phantasie über die Wirklichkeit zu stellen und sich vor der Letzteren abzuschließen”. “Die Glieder tun etwas, der Mund spricht etwas, von dem die Patienten nur als Zuschauer während der Ausführung durch ihre Sinne Kunde erhalten wie eine dritte Person. Namentlich Schreiben und Sprechen kommt auf diese Weise zustande. Nur das sind die automatischen Handlungen im vollen Sinne des Wortes.”
Die im Negativismus virulente Idee, daß das Falsche das Richtige sei, ist tief in der menschlichen Natur verankert. Er macht sich geltend in dem, was Abel Gegensinn der Urworte nannte. "Über den Gegensinn der Urworte" lautet der Titel einer kleinen Schrift Sigmund Freuds aus dem Jahr 1910: Eine Arbeit, kaum mehr als die Inhaltsangabe eines 25 Jahre zuvor erschienenen Aufsatzes des Altphilologen Carl Abel. Abel legte dort dar, daß sich in frühen Sprachen häufig in ein und demselben Wort eine gegensätzliche, gegensinnige Bedeutung verbirgt. Abels Beispiele aus der ägyptischen Sprache können durch modernere Beispiele ergänzt werden: Das lateinische "altus" steht sowohl für "hoch" wie "tief"; das englische "without" bedeutet genau genommen "mit ohne", und auch die deutsche Sprache kann mit markanten Beispielen aufwarten, sagen wir doch von einem Kind, daß es nur wenige Monate "alt" sei.
Im Umfeld von Abels Aufsatz sind gleich zwei Werke der Weltliteratur entstanden, in denen der "Gegensinn der Urworte" eine beträchtliche Rolle spielt: in Nietzsches "Zarathustra" und in Wagners "Parsifal". Nietzsches Übermensch ist besser weil böser und Wagners Musikdrama eine unendliche Melodie über Wunde und Wunder, über Sündigen und Gesunden. Außerdem gibt es poetische Beispiele (von Wilhelm Busch bis Paul Celan). Und nicht zuletzt hat Carl Abel in Giorgio Agamben einen Nachfolger gefunden: Der italienische Philosoph macht die politische Bedeutung von Begriffen wie "sacer", "Volk" oder "Subjekt" an ihrem Gegensinn fest. Wirksam wird das Phänomen auch in Namenstheorien, die verunstaltende oder fäkalisierende Namen als Ablenkungsmanöver für Dämonen deuten. Sie wiederum stehen in einer Reihe mit Untersuchungen zum Schamanentum und zur Mystik wie auch zur Logik psychischer Erkrankungen und zur Funktionsweise der Übertragung, die darauf beruht, durch Negation die Entladung zu triggern, durch Frustration die positive Energie der Seele gleichsam zu entkorken. Hierher gehört auch das negative Zeugnis des Sündenregisters. Abels Theorie mag es auch gewesen sein, was Freud vor allem zu seiner Theorie der Versprecher und seine Traumdeutung inspirierte. Eine Fährte liefern die Umkehr- oder Kippfiguren in Kartenspielen.
Es gilt, statt der Defizite in den Symptomen das Intentionale, Geistige, Konstruktiv-Positive zu erkennen, in der Weise, wie Kandinsky in seinem berühmten Aufsatz “Das Geistige in der Kunst” dies für die moderne Kunst getan hat, wo er übrigens einen gewissen Dr. Freudenberg mit dessen Äußerungen über “die gespaltene Persönlichkeit” zitiert.
Der Psychotherapie macht der Negativismus des Depressiven zu schaffen. Mancher legt eben nicht die Hände in den Schoß und ist nicht antriebsschwach, sondern legt paradoxes Verhalten an den Tag. Wo er untätig sein sollte, ist er tatsächlich überaktiv. Wenn er verzweifelt und traurig sein sollte, sprüht er vor Energie und Einfällen. Sie behilft sich mit dem Zusatz manisch-. Da aber das Deutungsschema depressiv im Common-sense mittlerweile so fest verankert ist, daß Depression zur einzigen legitimen seelischen Erkrankung avancieren konnte, setzt sich der Manisch-Depressive in seinem Manischsein dem Verdacht aus, gar nicht krank zu sein, sondern zu simulieren und sich der Verantwortung für sich und seine Familie nur entziehen zu wollen. Wenn derjenige wirklich krank wäre und leiden würde, dann wäre er depressiv und nicht manisch. Über diesen Widerspruch in ihrem Denken und Verhalten, können sich Psychotherapeuten in auffälliger Weise nicht bewußt werden, was nach ihren eigenen Kriterien und Maßstäben verlangt, sie für krank halten zu müssen.
Samstag, 1. Januar 2011