Psychologie

 

Psychologie beruht auf der irrigen Annahme, daß Psyche und Realität stets vereinbar seien oder gar vorgängig etwas miteinander zu tun hätten. Wenn wir jemanden lieben, dann handelt es sich nicht um eine empirisch existierende Person, sondern um die Phantasmagorie, die jeweils dem Element in unserem Inneren entspricht, das momentan vorrangig ist. Wenn man angesichts eines verstörenden Betragens oder seltsamer Entscheidungen eines Menschen sagt, das sei nicht nachvollziehbar, dann ist man der Sache näher, als wenn man glaubt zu verstehen, worum es sich handelt. Allerdings ist das Bekenntnis, zum Nachvollzug nicht fähig zu sein, korrumpiert, wenn es für gleichbedeutend erachtet wird mit einem diskriminierenden Urteil über die fragliche Person, deren Verhalten man nicht nachvollziehen zu können behauptet. Nicht-Nachvollziehbarkeit ist nicht das Ergebnis einer Analyse, sondern sie verlangt allererst nach einer solchen. Sie ist keine Antwort, sondern eine Frage.

Nun deutet aber vieles darauf hin, daß es der Psychologie nicht um Analyse geht. Wenn man im Falle der Psychologie davon ausgeht, wie bei Wissenschaft generell, sie diene dem Erkennen, dann ist dies ein Irrtum. Das Gegenteil ist richtig. Psychologie dient dazu, nicht erkennen zu müssen und dafür entschuldigt zu sein, ja darauf stolz sein zu können. Auch Naturgesetze dringen nicht in das ein, was sie zu erkennen verheißen und vorgeben, sondern nehmen dem Gegenstand, indem sie von ihm ein kontrollierbares Double bilden, das Gefährliche des Realen und erfüllen die Bedingungen des Rituals „Wir treiben Wissenschaft“, „Wir tun, was wir können“.

Den Psychologen motiviert zunächst seine eigene Abwehr gegen die Störung, die der Patient verkörpert. Er ist froh, das, worunter der Patient leidet, selber nicht zu haben. Er verfügt über Techniken, sich von dem Patienten als lebendes Individuum zu distanzieren. Statt sich auf den besonderen Fall einzulassen, durchsucht der Arzt sein Wissen nach einem ähnlich aussehenden Krankheitsbild und appliziert es auf den Patienten. Dessen besonderes Problem wird überschrieben durch das theoretische Konstrukt, das der Arzt für es parat hat. Der Patient wird von dem Individuum, das in die Praxis kommt, verwandelt in das Exemplar eines Krankheitsbildes. Aus dem vorgefundenen Individuum wird ein Konstituiertes. Der Arzt produziert ein therapierbares Double des Patienten, einen Replikanten. Der Patient läßt diese Prozedur mit sich geschehen, im Vertrauen darauf, daß der Therapeut es nur gut mit ihm meint und nur sein Bestes will: im Vertrauen darauf, sein echtes Leben als besondere Person und einzigartiges Individuum bei Abschluß der Therapie gegen Abgabe des Duplikats zurückerstattet zu bekommen.

Der eherne Grundsatz der Naturwissenschaften, Gesetzmäßigkeiten ausschließlich durch interessenfreie Beobachtungen unter konstant gehaltenen Experimentbedingungen zu gewinnen, so daß man sie mit anderen Personen und zu anderer Zeit beliebig oft wiederholen könnte, hat im Bereich der Psyche und des menschlichen Zusammenlebens einen bizarren Effekt, wenn seine Befolgung nicht einhergeht mit der Einsicht, daß es sich bei den Ergebnissen nur um Hypothesen handeln kann, die man jederzeit bereit sein muß, wieder umzustoßen.

Foucault führte die systematische Erkenntnisabstinenz der Psychologie historisch auf ihre Entwicklung aus der Internierung der Irren zur Zeit der französischen Revolution als Störenfriede zurück und auf den Umstand, daß die Kasernierung zu teuer wurde und man begann, Unterbringung und Diskriminierung zu privatisieren und den Familien aufzubürden. Damit war die Popularisierung der Psychiatrie verbunden, denn nun mußte und durfte sich jeder Bürger kompetent fühlen, einen Irren zu erkennen und ihn von einem bloßen Simulanten zu unterscheiden. Richter beanspruchen noch heute diese naturgegebene Urteilsfähigkeit. Und jeder mußte sich ermächtigt fühlen dürfen, einen Störenfried innerhalb der eigenen Familie einzuweisen. Man konnte unliebsame Mitglieder loswerden und entmündigen. Damit war die Unterordnung des Wahnsinns unter die Situationsmoral verbunden. Wahnsinn wurde nun als öffentliches Ärgernis und asoziales Betragen aufgefaßt. Psychologie ist nach Foucault nichts anderes als die Systematisierung der familiären Skandalisierung nervenden und ökonomisch schädlichen Betragens. Statt daß in der Folgezeit Wissenschaft diese Familienpsychologie aufgeklärt und korrigiert hätte, hat sie sich immer weiter auf das Niveau der Straße hinabbegeben. Die metatheoretische Rückständigkeit der Psychologie verdankt sich bis heute den Umständen ihrer Entstehung. Daß dies bis heute nicht abgebaut wurde, läßt sich nur damit erklären, daß die Ritualhaftigkeit der Psychotherapie bis heute viel stärker durch die Angst derer motiviert und abgesichert ist, die professionell mit Psychopathologie zu tun haben, als durch die Probleme, die die Patienten mit sich selber haben.


 

Samstag, 1. Januar 2011

 
 
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