organloser Körper

 

Deleuze und Guattari stellten die Texte Antonin Artauds in den Kontext der Versuche, Lebensformen zu bestimmen, die sich einer Funktionalisierung durch gesellschaftliche Rahmenvorgaben widersetzen, ohne die Immanenz des Lebens auf Erden verlassen zu müssen. Als zentralen Begriff ihrer Überlegungen identifizierten sie den des organlosen Körpers nach einem Begriff Antonin Artauds. „Der Körper ist der Körper. Er ist allein. Und braucht keine Organe. Der Körper ist niemals ein Organismus. Die Organismen sind die Feinde des Körpers.“ (TP 218) - Dieses Zitat Antonin Artauds ist einer 1948 aufgezeichneten Radiosendung, die der Zensur zum Opfer fiel, entnommen. Bereits am 28. November 1947, im Jahr seiner letzten Einlieferung in eine psychiatrische Anstalt, mit der sich seine klinische ‘Karriere’ von „neun Jahre[n] Einsperrung in Irrenhäusern“ vollendet, verkündet Artaud: „Denn binden sie mich, wenn sie wollen, aber es gibt nichts Sinnloseres als ein Organ.“ Artaud ist darin Wiedergänger der Antigone.

An einer äquivalenten Stelle in einer früheren Version seines Pamphlets „Schluß mit dem Gottesgericht“ - ein Auszug aus dem Interview - schreibt Artaud: „Wenn Sie ihm [dem Menschen; S.G.] einen Körper ohne Organe hergestellt haben, dann werden Sie ihn von all seinen Automatismen befreit und ihm seine wirkliche und unvergängliche Freiheit zurückerstattet haben.“ (Artaud 1980, 29.)

Der Verzicht auf das Organhafte des eigenen Körpers ist die letzte Verteidigungsmöglichkeit des vollkommen ohnmächtig gemachten Individuums. Wo ihm sämtliche Ressourcen für eine Kompensierung der erfahrenen Ohnmacht entzogen wurden, bleibt ihm nur, Teile seiner selbst zu opfern, so wie die Eidechse sich von ihrem Schwanz trennt und der Wolf die in die Falle gegangene Pfote abbeißt. Der Preis für die Befreiung erscheint zu hoch, ihn  zu zahlen, es gibt jedoch keine Alternative.

Der Sprachgebrauch, in dem das Organ hier auftritt, erinnert an La Mettrie. Wenn La Mettrie in seiner Streitschrift „Der Mensch eine Maschine“ [1984]) vom Menschen als Maschine sprach, betrachtete er den menschlichen Organismus ist ein Spezialfall eines funktionierenden Ganzen, das sich von anderen funktionierenden ‘Ganzheiten’ nur durch sein ‘Belebt-Sein’ unterscheidet. Was ein funktionierendes Ganzes zu leisten vermag, wäre seinen einzelnen Bestandteilen allein nicht möglich, diese sind ohne den Zusammenhang unter Umständen sogar völlig funktionslos. Die Funktionsbestimmung von Organen in Analogie zu materiellen Werkzeugen geht bis zu Aristoteles zurück. Damit die Analogiebildung La Mettries Ende des 18. Jh. möglich wurde, mußte jedoch die Emanzipation des Organischen vom Mechanischen vollzogen worden sein. Die Auffassung des Organischen sowie des Anorganischen als Maschine oder Maschinengefüge hat in Frankreich eine lange Tradition, die dort auf weniger Widerstand stieß als in protestantischen Nationen wie England oder Deutschland. Le Corbusiers Funktionalismus benutzte die Maschinenmetapher als Ausdruck inkarnierter, schöpferischer Fähigkeit unabhängig von bloßer Individualität.

Im Gegensatz zu den Leitbildern des ‘Neuen Bauens’ opponierte der ‘Surrealismus’ dieser Modellvorstellung. Seine Vertreter wollten genau diesem „Schöpfertum“ mit einer Inversion des Maschinenbilds eine Abfuhr erteilen. Gemeinsam ist der Position des Surrealismus und der Artauds die Opposition gegen den theologischen Rahmen, in dem sich sowohl die Lehre vom ‘besseren Ganzen’ als auch die Hinzunahme einer überweltlichen Steuerungsinstanz namens ‘Seele’ unweigerlich bewegt. Der ‘organlose Körper’ ist der von seiner Seele - und somit von seiner Religion - befreite Körper. Er wird dadurch ein Unding, ein Monstrum für den Gedanken des Intelligiblen in der Maschinerie. Die rest- und rastlose schizophren-maschinelle Verkettung von allem mit allem, wie sie im Anti-Ödipus von Deleuze und Guattari immer wieder beschworen wird, sprengt die Vorstellung wohlgeordneter Einheiten, deren Summenganzes bestimmt werden könnte. Die französischen Philosophen, die sich am Collège de France begegneten und von denen einige die Zeitschrift „Acéphale“ herausgaben, bekennen sich zu einem ähnlichen Ethos mit ihrer „Kopflosigkeit“.

Der von Georges Bataille am Vorabend des Zweiten Weltkriegs entworfene Mythos des »Acéphale« und die gleichnamige, auf ihm begründete Geheimgesellschaft reden nicht der Kopflosigkeit das Wort; sie fordern die Abschaffung aller sozialen Strukturen, die von einem einzigen Kopf, sei es ein Gott, der traditionelle Souverän oder ein faschistischer Führer, beherrscht werden.

 

Samstag, 1. Januar 2011

 
 
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