Der Schrei der Eule
Es gibt Menschen, die sich von ihren sogenannten Mitmenschen die Frage gefallen lassen müssen, warum sie immer anders denken müssen als die anderen. Diese Sonderlinge würden den großmäuligen Fragern gern entgegenhalten, was dabei herauskommt, wenn man so denkt wie die anderen, wobei dabei nicht mitzumachen freilich auch nicht hilft. Es gibt kein Entkommen. Um dies zu verdeutlichen, könnten sie auf Literatur verweisen, auf Kleists „Marquise“ zum Beispiel oder Camus „Der Fremde“. Wie das So-Denken-wie-die-anderen“ und das aussichtslose Nicht-Mitmachen funktioniert, läßt sich wie im Brennspiegel verfolgen in Patricia Highsmiths „The Cry of the Owl“ („Der Schrei der Eule“). Dieser Roman gewährt einen Blick in die Mechanik der Normalität, wenn sie sich gegen den Einzelnen wendet, der einen die Haare zu Berge stehen läßt.
Zunächst zum Inhalt: Nachdem seine Ehe endgültig gescheitert ist, zieht Robert Forrester von der Großstadt aufs Land, um Abstand von seiner biestigen Noch-Ehefrau Nickie zu gewinnen. Diese zeigt sich als fähig, ihm das Leben zur Hölle zu machen. Bei ihrer, wie sie sagt, scherzhaft gemeinten Mitteilung, die Scheidung zwar gewollt, es sich jedoch anders überlegt zu haben, packt ihn das nackte Entsetzen. Ein Freund möchte ihn gern verkuppeln, um ihm zu helfen, den Trübsinn zu verscheuchen. Aber er möchte erst einmal Ruhe haben, um sich wieder einzusammeln. Auch die Geselligkeit von Parties zu genießen, auf die er eingeladen wird, um nicht allein zuhause rumsitzen zu müssen, vermag er nicht zu genießen. Er beobachtet lieber eine Frau in ihrem Haus - wie einst Werther Charlotte – die nichts zu vermissen scheint. Er hatte sie eines Tages auf seinem Weg vom Büro nachhause zufällig im erleuchteten Fenster gesehen. Sie machte auf ihn den Eindruck, wunschlos glücklich zu sein. Das hatte ihn angerührt und beruhigt und mit der Welt versöhnt. Er hatte teil am Frieden eines Menschen, der ganz bei sich zu sein schien.
Jenny Thierolf, so heißt die junge Frau, erschien ihm "wie in einem Gemälde". Das gerahmte Bild verspricht, mich an einem fremden Dasein teilhaben lassen, ohne – wie es normalerweise geschieht mit den Menschen, mit denen ich in der Realität Umgang habe – dafür den preis zahlen zu müssen, mich von mir selber zu entfernen, mich fremden Gesetzen zu unterwerfen, fremden Ansprüchen und Erwartungen zu genügen, Normen zu gehorchen. Hier konnte Robert in der Phantasie die Zufriedenheit und das häusliche Glück genießen, das ihm selber nicht vergönnt zu sein schien. Was ihn immer wieder an diesen Ort zieht, ist der Wunsch, dazuzugehören, zu den Glücklichen zu zählen.
Als eines Abends der Freund des Mädchens kommt, gerät er in Gefahr, entdeckt zu werden. Es ging noch einmal gut, aber beim nächsten mal, als Jenny plötzlich in den Garten kommt, um etwas zu verbrennen, entdeckt sie ihn und reagiert panisch. Es gelingt ihm, sie zu beruhigen, und heilfroh, daß sie nicht die Polizei gerufen hat, will er sich davontrollen. Statt ihm Schimpfworte hinterherzurufen, bittet sie ihn ins Haus. Er soll erklären, was ihn bewog, sie heimlich zu beobachten. Er weiß es selber nicht, versucht es aber mit der Erklärung, daß ihr augenscheinliches Glücklichsein auch ihn glücklich gemacht habe.
Als sie ihm bei einem Wiedersehen ihre Freundschaft anbietet, wird es ihm bereits zu eng, und er nimmt zu der Strategie Zuflucht, sie vor sich zu warnen, weil er in seiner Schwermuth nicht wisse, wozu er fähig sei. Er bedient sich dabei einer Interpretation seiner Fast-Exfrau auf, die in ihm einen pathologischen Freak sieht, der sie beinah ermordet hätte. Tatsächlich war er nur genervt gewesen und hatte zufällig das Gemüsemesser noch in der Hand, mit dem er dabei gewesen war, das Abendessen zu bereiten, als er zu ihr ins Schlafzimmer kommt. Robert kolportiert diese hysterische und mißgünstige Übertreibung, um Jenny auf Distanz zu halten. Diese läßt sich davon aber nicht beeindrucken. Im Gegenteil fühlt sie sich umso stärker zu ihm hingezogen. Jenny ist überzeugt, daß die Begegnung mit Robert ein Wink des Schicksals sei. Die erste Begegnung erinnert sie an ein Kindheitserlebnis, an den Besuch eines Mannes im Elternhaus, der ihr wie ein Todesbote erschienen war. Tatsächlich starb ihr Bruder kurz darauf. Ob Robert glaube, daß es so etwas wie Schicksal gibt.
Robert kann mit der realen Zuneigung Jennys, obwohl er sie zuvor noch glorifiziert hatte, wenig anfangen. Sie bringt ihn noch mehr in Bedrängnis, als sie sich von ihrem zur Gewalt neigenden Freund Greg trennt. Daß ihre Freunde ihn nicht mögen und vor allem Jennys beste Freundin Susie es ihr übel nehmen, daß sie sich zu seinen Gunsten von Greg getrennt hat, der ein viel besserer Mann sei und viel besser zu ihr passe, ist ihm unangenehm. Außerdem fürchtet er, eine engere Bindung könnte seine Scheidung gefährden und die intriganten Nachstellungen seiner Fast-Exfrau noch gefährlicher machen. Jenny bleibt nicht verborgen, daß Robert ihr gegenüber keine große Liebe empfindet. Dennoch fühlt sie sich bei ihm geborgen und von ihm verstanden. Gregs Jähzorn hatte sie zunehmend genervt und ihre Zuneigung erkalten lassen. Sie verbringen zunehmend viel Zeit zusammen und mitunter übernachtet Jenny bei Robert. Sie drängt sich nun auch ungefragt in sein Leben, schleppt ihn auf Wandertouren mit, taucht an seinem Arbeitsplatz und bei ihm zuhause auf. Robert versucht unter Verweis auf seine bevorstehende Beförderung und Versetzung nach Philadelphia ihr ihre Liebe auszureden. aber Jenny verkündet nach kurzer Überlegung, einfach mitziehen zu wollen. Obgleich Robert alles versucht, ihr dezent begreiflich zu machen, daß er sie zwar mag, aber an einer Beziehung kein Interesse hat, weder mit ihr noch mit irgendjemand anders, läßt sie nicht locker. Das geht soweit, daß er, als er, von der Arbeit heimkommend Jenny vor seinem Haus herumlungern sieht, sich davonschleicht und in seinem Auto übernachtet, nur um ihr nicht in die Hände zu fallen.
Als Greg dem beiden eines Abends auflauert und Robert Prügel androht, ist dessen erster Reflex, einfach zu gehen und Jenny dem eingebildeten Rivalen kampflos zu überlassen, aber weder Greg noch Jenny lassen dies zu. Es kommt zu einer Prügelei. Obwohl Greg kräftiger und entschlossener ist, ist, fällt er nach einem Zufallstreffer von Robert in den Fluß. Robert rettet ihn, läßt ihn dann aber aus Furcht vor neuen Angriffen am Ufer liegen. Als dieser nach zwei Tagen als verschwunden gemeldet ist, gerät Robert in Mordverdacht. Auch daß im Fluß eine aufgeschwemmte Leiche gefunden wird, vermag den Verdacht vorerst nicht zu entkräften, da deren Identifizierung einige Zeit in Anspruch nehmen würde. Da sich dergleichen in einer Kleinstadt schnell herumspricht, wird Robert von seinem neuen Arbeitgeber unbefristet beurlaubt. Seine Freunde wenden sich von ihm ab. Sein scheinbar freundlicher, aber humorlos spießiger Vermieter will ihn „hier nicht mehr haben“.
Greg lebt natürlich noch, und er hat sein Verschwinden in Zusammenarbeit mit Nickie organisiert, um Robert einzuschüchtern und in ein schlechtes Licht zu rücken, um Jenny so zurückzugewinnen. Nickie, die davon überzeugt ist, daß Robert für jeden, der seine Bekanntschaft macht, ein Fluch ist, sieht eine Gelegenheit, sich für die mit Robert verbrachte und vergeudete Zeit zu rächen. Die Polizei verdächtigt ihn mittlerweile offen des Mordes und verwehrt ihm Personenschutz nach dem ersten Mordanschlag, selbst Jenny geht emotional auf Distanz. Daß der eine Paranoia zu entwickeln scheint, macht ihr Angst. Dabei hat er herausgefunden, daß Greg vor seinem Verschwinden mit Nickie Kontakt aufgenommen hat und beide gemeinsam sein Verschwinden inszeniert haben, so daß er allen Grund hat für seinen vermeintlichen Verfolgungswahn. Jenny nimmt sich das Leben, überzeugt davon, daß Robert ein ihr vom Schicksal zugetriebener Todesbote ist. Greg, als er sich nach einem ersten gescheiterten Mordversuch ein zweites mal anschickt, Robert zu ermorden, erschießt versehentlich Roberts Vermieter.
Die Schlinge um Roberts Hals zieht sich erbarmungslos immer weiter zu. Auch den anderen Personen bleibt im Laufe der Ereignisse immer weniger Raum zum Atemschöpfen. Robert treibt unaufhaltsam seinem Untergang zu. Viele arbeiten mit an seinem Untergang. Dabei hat niemand hat etwas Böses im sinn. Alle haben die besten Absichten. Alle glauben, richtig zu handeln. Mit ihren Intentionen und Überzeugungen befinden sich in Übereinstimmung mit dem Common-sense.
Die Polizisten folgen nur ihren Regeln und wenden an, was sie in der Ausbildung und in der Berufspraxis gelernt haben. Nickie verbreitet nur, was sie von ihrem Ex-Mann hält.
Susie will nur das Beste für ihre beste Freundin. Möglich, daß sie Greg mehr liebt als ihren eigenen tumben Freund, auch denkbar, daß Greg genauso ist wie ihr eigener Freund, was ihr das Zusammenleben mit diesem erträglicher macht, so daß sie die Verbindung von Jenny mit Greg braucht. Jenny möchte gut sein und ihre Entscheidungen in Übereinstimmung mit einem sie lenkenden Schicksal treffen. Robert will sich nur vor seiner Ex in Sicherheit bringen, ohne anderen darum auf die Füße zu treten. Jeder der Akteure versucht nur, seine eigenen Emotionen zu verstehen, seine Gedanken zu ordnen, sein Leben zu retten, und
jeder verläßt sich dabei auf seinen gesunden Menschenverstand. Zwar gab es Anzeichen für eine ungute Entwicklung schon früh.
Einmal macht Robert gegenüber dem Nachbarn und Vermieter eine saloppe Bemerkung, die als Höflichkeit und Angebot der Kungelei gedacht war, die dieser mit einem Zucken im Gesicht beantwortet. Er hatte es Robert übel genommen, daß dieser das enge Zusammenleben mit kranken Mutter als wohl nicht so angenehm bezeichnet hatte. In einem Scheidungsprozeß gilt nun mal, daß jedes Wort, das der Mann sagt, gegen den Mann verwendet werden kann. Die vermeintliche Depression als Schutzbehauptung zu erwähnen, wobei herauskommt, daß Robert schon einmal einen Psychiater aufgesucht hatte, erweist sich als Falle. Aber niemand konnte wissen, was er mit seinen Äußerungen ausrichten, welche weitreichenden Konsequenzen seine Handlungen haben würden. In der Summe der Handlungen, im Konzert der Einzelakteure ergibt sich, ohne daß jemand dafür verantwortlich wäre, ein tödliches Gebräu.
Der Plot entwickelt sich mit einer gnadenlosen Folgerichtigkeit. Schon zu Beginn der Geschichte wird eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, die niemand aufzuhalten vermag. Jede neue Szene ist ein weiterer Schritt in den Maelstrom, in den Robert ausweglos hineingezogen wird. Das Böse, das gern beschworen wird, gibt es nicht. Die Fatalität ist Resultat zusammenwirkender Normalitäten. Es ist die Normalität selbst, die sich zur Gewalt entwickelt. Wir sehen, wie sich etwas unaufhaltsam gegen alle Vernunft zusammenbraut, obwohl jeder Einzelne vernünftig handelt. Man kann sogar beobachten, wie die geltenden Werte und Normen in dieser Geschichte hergestellt werden.
Um welche Werte und Normen es sich handelt und wie sie hergestellt werden, läßt sich auch anhand der idiotischen Statements verfolgen und ablesen, die in Rezensionen abgegeben werden. Einige Zitate mögen dies auf schauerliche Weise veranschaulichen:
Von Robert heißt es, er sei menschenscheu. „Der Protagonist, ein depressiver Sonderling, erweckt das Mitleid des Lesers und bleibt ihm doch seltsam fremd. Im fehlenden Talent, das Leben zu meistern, und in der interesselosen Sprödigkeit dieses Antihelden verbirgt sich ein Stück von Patricia Highsmiths eigenem existenziellem Pessimismus.“
„Es fällt zunächst schwer zu glauben, daß Jenny sich zu einer derart kaputten Persönlichkeit hingezogen fühlt.“ Das werde erst zumutbarer, als wir mitbekommen, „daß sie entgegen dem ersten Anschein gar nicht so glücklich und zufrieden ist, sondern selbst eine mittelschwere Schramme mit sich herumträgt. Sie glaubt an Fügungen und Schicksal (ausgelöst durch den tragischen Tod ihres kleinen Bruders zu Kinderzeiten) und demzufolge, daß sie und Robert "aus einem Grund" zusammengeführt wurden - perfekte Ausrede für eine unsichere, labile Persönlichkeit. Weil's ja viel bequemer und einfacher ist, sich von einer "höheren Macht" leiten zu lassen. Im Wissen, daß Robert für sie "bestimmt" ist, drängt sie in sein Leben.“
„Robert ist, Highsmith-typisch, kein blütenweißer Held, sondern ein zutiefst zerrissener Protagonist.“
„Sowohl Jenny als auch Robert sind keine "cookie-cutter-Helden"; sondern schwierige, ambivalente Figuren, die auf der einen Seite sympathisch genug sind, um mit ihnen eineinhalb Stunden Zeit zu verbringen, aber auf der anderen Seite auch "düster" genug, um ihnen böse Abgründe zuzutrauen.“
„Obschon wir sehen, daß Robert Greg im Zweikampf nicht umbringt, hat der Film doch schon genügend Zweifel gesät, um verschiedene Szenarien für möglich zu halten (daß Robert zurückgegangen ist, um Greg den Rest zu geben; daß Greg und Jenny, warum auch immer, zusammenarbeiten, um Robert in Verruf zu bringen; dass Jenny die günstige Gelegenheit genutzt hat, um Greg vielleicht auf eigene Faust endgültig aus ihrem Leben zu streichen). Roberts fixe Idee, Greg müsse noch am Leben sein, könnte ebenso gut Anzeichen einer Paranoia sein, die Anschläge auf sein Leben könnte z.B. auch Gregs Vater, der nicht weniger impulsiv ist als sein verschwundener Sohnemann, verübt haben, während Roberts Leben förmlich auseinanderfällt. Wenn Robert auf die Anschuldigung, er habe versucht, seine Ex Nickie zu ermorden, zu seiner Verteidigung anführt, nur zufällig mit einem Küchenmesser in der Hand ins Schlafzimmer gekommen zu sein, als die Alte mal wieder stockbesoffen war, ist es schwer, seinen Beteuerungen zu glauben, zu fragil erscheint uns seine Psyche, zumal er vorher Jenny gestanden hat, zumindest Mordgedanken gehegt zu haben).“
„Wie gesagt - es ist ein charakterlastiges Script, das nicht viel an kinematischer "Action" beinhaltet (es gibt ein paar Faustkämpfe, die Attentate auf Roberts Leben aus dem Hintergrund und im Finale wird's kurz mal etwas härter und blutiger), es wundert nicht, daß Thraves den Streifen ausgesprochen "europäisch" inszeniert und in der Tat das Endprodukt manchmal an eine etwas glatter polierte Ausgabe der eleganten französischen Thriller Marke Chabrol erinnert.“ Als die Thematik der Geschichte meint man Entfremdung, psychische Isolation, Beziehungsunfähigkeit ausgemacht zu haben. „This story is about voyeurism and crime. Two men loving a woman.“
Dienstag, 25. Januar 2011