Übergang
Sibirische Schamanen können schon zu Lebzeiten, nach einer gefährlichen und schmerzhaften Initiation mit bestimmten Hilfsmitteln im Zustand der Trance oder Ekstase das Land der Toten, das Jenseits, betreten. Dieses Privileg ist alles andere als ein Spaziergang. Während der Initiation hat der Schamane in einer Traumvision fast immer grauenvolle Martern zu erleiden. Böse Jenseitsmächte zerstückeln ihn zunächst, setzen sein Fleisch und seine Knochen dann neu zusammen und machen ihn auf diese Weise zu ihresgleichen. In dieser “Traumzeit” lernt er seine Hilfsgeister in Tiergestalt kennen. Derart zerlegt und neu komponiert ist er in der Lage, mit den Toten und Geistern um den Ausgang eines Krieges oder der Ernte zu kämpfen. Der Ausgang dieser Kämpfe entscheidet über das künftige Wohl der Gemeinschaft. Dann muß er seine Montage wieder rückgängig machen, um in die weltliche Welt zurückkehren.
Charakteristisch für die Priester dieser Kulte, für deren Amt solche Menschen prädestiniert sind, die bereits bei der Geburt durch besondere körperliche Merkmale auffallen, ist die Fähigkeit, in Trance fallen zu können und ekstatische Erlebnisse und Halluzinationen zu haben. Die Reise ins Land der Toten, zum Beispiel zu dem Zweck, um die Fruchtbarkeit der Felder zu kämpfen, wird als das Ziel imaginiert, das die Gemeinschaft solchen Entrückungen geben kann. Der gelernte Schamane unternimmt diese Reise im Dienste der Gesellschaft. Und die archaische Gesellschaft würdigt diesen gefährlichen, schmerzhaften, erschöpfenden, aufopfernden Dienst, während das vergleichbare Phänomen in zivilisierten Gesellschaften zu Kriminalisierung und Psychiatrisierung, als zwei äquivalente Formen der Aussperrung oder Kasernierung führt. Mit der Fähigkeit zu halluzinieren, besitzen die Schamanen eine Fähigkeit, die in unserer zivilisierten Kultur als Krankheit diffamiert wird. Das Wissen, das den Schamanen bei den Torturen zuwächst, macht sie in ihrer Kultur zu besonderen Menschen, die mit ihren Ausnahme-Fähigkeiten der Gemeinschaft unschätzbare Dienste erweisen. So betrachten sie es etwa als ihre Aufgabe, sich um die Seelen der Gruppenmitglieder zu kümmern, verirrte oder von Geistern entführte Seelen mit einem Seelenfänger zurückzuholen, die Seelen Verstorbener ins Jenseits zu geleiten. Indem sich der Schamane aufspaltet in ein Ich, das in dem Raum anwesend bleibt, in dem das Ritual stattfindet, und ein anderes Ich, das ins Jenseits reist, ohne zu wissen, ob es zurückkehren wird, verfügt er über ein Wissen über das Verhältnis der Teile zum Ganzen. Er verfolgt ein Problem radikal bis zu den Wurzeln, bis er die Lösung findet: die in der Wiedervereinigung der zersprengten Teile liegt.
Die Psychiatrie als zentrale Einrichtung zivilisierter Gesellschaften wertet das, was einst in Fruchtbarkeitskulten als Dialektik von Zerstückelung und Synthese begriffen wurde, als Indizien für die Krankheit als Schande: Das Phänomen, daß “ich” teilweise ein “anderer” bin, daß das Individuum eigene Gedanken nicht als eigene erkennt, sondern fremde Stimmen zu hören glaubt, sind Symptom für etwas, was den gesunden Körper der Gemeinschaft gefährdet und aus ihm ausgesondert und abgestoßen werden muß, wogegen sich die Gesellschaft wehren zu müssen glaubt. Gesundheit ist definiert als robuste Einheit der Teile. Die Einheit des Kollektivs wird gedacht als etwas, das durch die Einheit der Elemente in sich gewährleistet ist. Die Einheit der Elemente und die ihrer Summe werden als statische verstanden, nicht als dynamische Fähigkeit, die Einheit aufzulösen und sie unter erschwerten Bedingungen wieder zu synthetisieren. Die kraftraubende Synthese heterogener und auseinandertreibender Elemente wird heute negiert, während sie einmal als besondere Fähigkeit und als beinah göttlich verehrte Gabe galt.
Die Schamanenreise überlebt in unserer Zivilisation im Modell der Elektrizität und Elektronik. Ihr Verlauf hat auffallende Ähnlichkeit mit dem elektronischen Konzept der Digitalisierung und Reanalogisierung, das Informationseinheiten den Weg durch eine Leitung oder durch den Äther erlaubt. Koschorke ist in seinem Buch „Körperströme und Schriftverkehr“ (1999) dieser Assoziation nachgegangen. Er macht es sich zur Aufgabe, in seiner mediologischen Problemstellung den Weg nachzuzeichnen, den das poetische Zeichen als Schrift gehen muß, um "durch den zweifachen Schritt der Entkörperung und des Wiederverkörperns" Ähnlichkeit mit der außerästhetischen Körperwelt herzustellen. (S. 318) In Übereinstimmung mit Heidegger leben wir heute in einer Umwelt, die dem nach außen gestülpten Gehirn gleicht. Wir gehen in unseren Gehirnwindungen spazieren und bewegen uns mit unseren Verkehrsmitteln auf den Bahnen der zerebralen Verschaltungen. Wir sind in der Selbstobjektivierung einen Schritt weiter gegangen, als es die Schamanen der sibirischen Völker gewagt hatten und vermocht hätten. Den Subjektstatus, den der Schamane noch innehatte, haben wir an die Technik abgetreten. Wir haben uns selbst auf den Status oder Realitätsgrad von Elektroden herabgestuft.
Sonntag, 2. Januar 2011