Traum
Dem Traum werden viele lebenswichtige und wohltätige Funktionen nachgesagt. Träume helfen uns dabei, Gelerntes zu behalten, unser Immunsystem zu restabilisieren, unsere am Tage gefällten Urteile und getroffenen Entscheidungen zu überprüfen, vernachlässigte Wahrnehmungen nochmals Revue passieren zu lassen, unser Gedächtnis auf Vordermann zu bringen. Sie dienen der Selbsterkenntnis, auch dadurch, daß sie uns helfen, Erledigtes zu vergessen und den Ballast zu entsorgen. Sie lassen uns sensibler auf äußere wie innere Signale reagieren als das mit Zensur und Abwehr ausgerüstete Bewußtsein. Sie geben Aufschluß über Bearbeitungsprozesse von unterschwellig oder unbeachtet gebliebenen Sinnesreizen und deren Weiterverarbeitung sowie über das dafür zuständige vorbewußte Processing-System.
Das Träumen wird dabei zu einer überaus leistungsfähigen Unterabteilung des rationalen, auf Effektivität bedachten Bewußtseins gemacht, zu einem ebenso bescheidenen wie tüchtigen Gehilfen des Chefs. Vielleicht ist das Träumen aber gar nicht Teil des Betriebs. Träumen dient auch und vielleicht sogar vor allem anderen der Bewahrung des Schlafes, solange er dauert, und daß er dauert, könnte er gerade der Unverständlichkeit der Träume verdanken, die einen nicht loslassen will. Weckreize werden umstandslos in den Traum eingebaut, auf eine Weise, die im Traumgeschehen so weit zurückreicht, so daß wir als Erwachender glauben müssen, die narrative Symbolik sei auf die Attacke in Form des verwandelten Weckgeräusches bereits Stunden zuvor vorbereitet gewesen. Was sich faktisch in Sekundenbruchteilen ereignet, gibt sich den Anschein einer langen Erzählsequenz, die uns mit ihren Symbolvernetzungen nicht freigeben will. Er treibt immensen Aufwand, den Schläfer der Effizienzwelt zu entziehen. Der Traum könnte also auch oder sogar primär eine Funktion haben, die so gar nicht zu dem uns aufgezwungenen und in jahrhundertelangem Terror verinnerlichten Arbeitsethos passen mag.
Sonntag, 2. Januar 2011