Der Prozeß
Gerade die Art des vom Ohnmächtigen inszenierten Chaos, so fragt Agamben, kommt sie nicht dem Kafka‘schen Status von Gesetz nahe, die Scholem als „Geltung ohne Bedeutung“ bezeichnete? Er behauptet, daß ein solches Gesetz dem Leben im Ausnahmezustand gleicht, in dem die unschuldigste Geste und die kleinste Vergeßlichkeit die extremsten Konsequenzen haben können. Es sei genau ein Leben dieser Art, wie es Kafka beschreibt, in dem das Gesetz umso undurchdringlicher ist, je mehr es ihm an jeglichem Gehalt mangelt, und ein zerstreutes Klopfen an ein Tor unkontrollierbare Prozesse in Gang setzen kann. Im Kafka‘schen Dorf gilt die leere Potenz des Gesetzes dermaßen, daß sie vom Leben ununterscheidbar wird. “Die Existenz und selbst der Körper von Josef K. fallen am Ende mit dem Prozeß zusammen, sie sind der Prozeß.“ (Agamben, ebenda, S. 68) Agamben vermutet, daß wir heute alle homines sacri sind. Wenn er den einstigen Ausnahmezustand heute zur Regel erhoben sieht, dann dienen ihm das KZ und der Gulag als Vorbild und Trainingslager für die neoliberalistische Gegenwart.
Sonntag, 2. Januar 2011