Rousseau
Verführer vom Schlage eines Julien Sorel, Rastignac, Bel Ami, Leonhard (Hebbels „Maria Magdalena“), Johann (Nestroys „Zu ebener Erde und erster Stock), Valmont (Liaisons dangereuses), Rocquairol (Jean Pauls „Titan“), Johannes (Kierkegaards Verführer) kodifizieren freiwillig das Arsenal der Unterstellungen, die man für den Verlassenden parat hat und an die man sich klammert, um aus ihm den Teufel persönlich zu machen. Was man ihm unterstellt, ist pauschal gesagt der pure Genuß an der Macht, an der gewalttätig ausgelebten Macht. Dies ist nur möglich, weil sie den Blick der Verfolger ritterlich ablenken von der Hauptperson. („Lauf! Ich lenke sie ab!“) Jene Verführer lenken stolz alle Pfeile, die je die Luft mit ihrem Sirren erfüllten, auf ihre eigene Brust. Einen Einblick in die Motive für dieses selbstlose Sich-Vordrängeln an der Front der Meute gibt vor allem Kierkegaards Johannes, wie ich unter dem Stichwort „Johannes“ darzulegen versuchte.
Nun könnte man allerdings meinen, das uneigennützige Kalkül des begabten Schuftes habe auch eine andere Seite. Ist Kierkegaards Johannes nicht von der bangen Sorge um die Konsistenz seiner eigenen Identität in den Augen der anderen bestimmt? Fragt er sich nicht, was die anderen von ihm denken werden, wenn er der Frau, die er vor wenigen Tagen auf Knien angefleht hat, ihn zu ehelichen, unmittelbar nach der Verlobung den Laufpaß gibt? Sie werden denken, daß ich meiner nicht mächtig sei. Da ist es besser, sich den Ruf eines prinzipienlosen Verführers zuzulegen. Johannes beschließt, Regine vor aller Augen, in aller Öffentlichkeit ein Theater vorzuführen, in dem er als gewissenloser Lump erscheint, mit dem man unmöglich die Ehe eingehen kann. Anscheinend trifft er diese Entscheidung ohne des Geredes der anderen zu achten, auf die Gefahr hin, deren Achtung zu verlieren. Doch macht er sich nicht gerade darum zum Schauspieler für andere, und macht er sich nicht gerade deshalb abhängig von dem Eindruck, den andere von ihm gewinnen könnten? Nicht mehr das eigene Empfinden ist Motiv des Handelns sondern das Bild, das der andere von ihm gewinnen könnte. Er macht sich abhängig von der allgemeinen Meinung, indem er sie mutwillig mißachtet. Der Verlassende hat keinen Zugang zu seinen eigenen Gefühlen. Die eigenen Gefühle gibt es für ihn nicht.
Sonntag, 2. Januar 2011