Theater
Rousseau blickte mit Abscheu auf die theatralischen Züge des großstädtischen Lebens. Der Pariser d'Alembert hatte zwischen 1755 und 1757 für die Enzyklopädie einen Artikel über das Theater verfaßt, in welchem er u.a. der Stadt Genf, bis dahin ohne eine solche Institution, deren Einrichtung dringend empfiehlt, da sie zur Verfeinerung der Sitten und des Lebensstils wesentlich beitrage. Rousseau, Bürger der Stadt Genf, der lange in Paris gelebt hatte, antwortet empört in einem öffentlichen Brief, in dem er das Theater als Angriff auf die wahren Empfindungen, soliden Sitten und die Moral verurteilt, als Inbegriff unproduktiven Zeitvertreibs und der Verführung zu verschwenderischer Putzsucht geißelt. Die Bühne biete nicht nur statt der einfachen Freuden, die den wahren Bedürfnissen der menschlichen Natur entspringen, nutzloses Vergnügen. Das Theater entrücke den Zuschauer in Distanz zum Leben und lasse ihn über einem imaginären Schicksal oder den Belangen einer ihm völlig fremden Person seine nächsten Pflichten vergessen und seine eigene Familie vernachlässigen. Entgegen ungeprüft übernommenen Annahmen führe seiner Erfahrung nach die theatralische Darstellung nicht zu moralischer Läuterung, sondern vielmehr zu einer Identifikation mit den Leidenschaften der Bühnenfiguren, die den Zuschauer seiner selbst entfremde und eine Läuterung erst nötig mache. "So läutert das Theater die Leidenschaften, die man nicht hat, und schürt die, die man hat. Ist das nicht eine wahrhaft heilsame Medizin?"
Theater ist Rousseau zufolge stets auf Publikum bezogen, schielt vorwiegend auf weibliches Publikum. Die falsche Welt des Theaters dient nur dazu, das Falsche im bürgerlichen Leben zu affirmieren, nämlich die ohnehin die Gemeinschaft vergiftende Unaufrichtigkeit und das Mißtrauen zu fördern. Als moralisches Motiv ist das Theater Inbegriff der Korrumpiertheit und Uneigentlichkeit. Die Bühne verhält sich zur Wirklichkeit des Alltags wie die Maske zum Gesicht, wie die Sünde zur Tugend, die Intrige zur Freundschaft, der Verrat zur Treue, wie Herrschaft und Sklaverei zur Freiheit, wie der Tod zum Leben.
Geselligkeit zwischen einander fremden, durch nichts als Muße und Theatergenuß verbundenen Individuen mache diese abhängig von Bildern, die sich zwischen die Bedürfnisse und die Realität schieben. Sie werden notwendig Schauspieler für andere und selbst abhängig von dem Bild, das andere sich von ihnen machen oder machen könnten. Sie versuchen andere nachzuahmen. Nicht mehr der eigene Wille ist Motiv des Handelns sondern das Bild, das der andere von mir gewinnen könnte. Der Einzelne wird abhängig von der allgemeinen Meinung. Kommunikation wird denaturiert zum Streben nach Anerkennung, Ruhm, Ansehen, Geltung, Attraktivität. Es verleitet zur gefälligen Anpassung an eine in ihren Erwartungen nicht mehr hinterfragte Gesellschaft, wenn sich der Einzelne diese nach dem Muster des Theaterpublikums vorstellt. Die Großstadt werde, je mehr sie der Bühne gleiche, zum Schauplatz tragischen Selbstverlustes.
Rousseau erachtete gerade das, was der sich gerade erst formierenden Soziologie zufolge den Kitt der Gesellschaft bildet, der Anomie verhindert, als das, was das Zusammenleben zu etwas Anomischem werden läßt. Er dachte, auf diesem Wege die entscheidende Anregung dazu zu geben, wie man die anomische Massengesellschaft und ihre gefährliche Formlosigkeit, die sich im Laufe und in der Folge der französischen Revolution offenbart hatte, in die Einheit und Eintracht einer archaischen Stammesgesellschaft zurückverwandeln könne: nämlich durch Versammlungen aus feierlichem Anlaß, die den "geregelten Tumult" zur "erregenden Zusammenkunft der Vielen" werden läßt. Guy Debord und Henri Lefèbvre folgten ihm auf diesem Weg.
Sonntag, 2. Januar 2011