Scham

 

Agamben definiert Scham als “das grundlegende Gefühl, ein Subjekt zu sein.“ Scham ist „die verborgene Struktur aller Subjektivität and allen Selbstbewußtseins” und meint schlicht “zu etwas bestimmt zu sein, das man nicht zugeben kann“. (Agamben, Remnants of Auschwitz)” Scham impliziert eine paradoxe Bewegung von “Subjektivierung und Entsubjektivierung, Selbstverlust und Selbstbesitz, Sklaverei und Souveränität.

Man kann nur hoffen, daß Baruch Spinoza recht hatte und daß Scham der Beginn eines ehrenwerteren Lebens ist (Spinoza, Baruch, Ethics, Part Four, Prop. LVIII.). Seltsamerweise, so Agamben, werden diejenigen, welche die Konzentrationslager überlebten, von der Scham geplagt, überlebt zu haben. Warum, wo sie sich doch keines Verbrechens schuldig gemacht haben, für das sie sich schuldig fühlen müßten? Niemand käme auf den Gedanken, sie dafür schuldig zu halten, daß sie ihr Überleben derart grauenhafter Umstände auf Kosten derer ging, die sie nicht überlebt haben. Agamben vermutet, daß diese unbegreifliche Scham das Grundgefühl des homo sacer ist, wegen seines Status as heilig innerhalb der biopolitischen Sphäre.

Wie Günter Anders konstatiert Agamben ein Gefühl des Ungenügens gegenüber den übermächtigen Objektivationen. Doch im Unterschied zu diesem, der in „Die Antiquiertheit des Menschen“ dieses Ungenügen als eines gegenüber der Technik beschrieb, vermutet Agamben, daß das moderne Subjekt ein solches Ungenügen gegenüber der Politik empfindet. Es fühlt eine “stille Scham, menschlich zu sein“, die zu einer Verhärtung des Links zwischen ihm und der politischen Macht führt, unter der es lebt. Dies sei die „Scham des Lagers“. Sie erkennt, daß das Unvorstellbare aufgetaucht ist. Das, was nicht geschehen durfte, geschah. (Agamben, Means Without End). Diese Art von Scham kann nicht gemeistert werden, indem man das, was geschieht, akzeptiert, wie das Nietzsche in seinen Überlegungen zum Mythos der ewigen Wiederkehr verlangte, oder durch die Erklärung der eigenen Unschuld, wie das die Nazi-Authoritäten in den Nürnberger Prozessen taten, indem sie vorgaben, nur Befehle befolgt zu haben, weshalb sie nicht verantwortlich gemacht werden könnten. Diese Scham ist das, was die Subjektivität ausmacht. „Der Mensch ist das Wesen, das den Menschen überleben kann“. Karl Marx behauptete, Scham sei der Beginn einer Revolution.

homo sacer

Jemand, der in seiner Ausnahmesituation wie tot ist, da er sich vor dem Zug in die Schlacht, um den Sieg magisch herbeizuzwingen, den Göttern geweiht hat, darum ihnen gehört, der kann nicht ohne weiteres lebendig zurückkehren, als sei nichts gewesen. Bei dem betroffenen Individuum handelt es sich um jemanden, der den Tod unerlaubt überlebt hat und darum mit der menschlichen Welt unvereinbar geworden ist - es sei denn, er stürbe ein zweites Mal. Während dieser magischen Zeit bewohnt er einen politischen Körper, der alterslos und unsterblich ist. Die Tötung dieses geweihten Körpers ist kein Mord. Wer so jemanden tötet, macht sich nicht des Mordes schuldig. Wer aber töten kann, ohne einen Mord zu begehen, erfüllt das Kriterium der Souveränität in dem Sinn des Wortes, das im 16. Jahrhundert durch die Absolutismuslehre des französischen Staatsphilosophen Jean Bodin geprägt wurde. Carl Schmitt hat dann den Souveränitätsbegriff reaktiviert als etwas, das auch für den modernen Staat unverzichtbar und konstitutiv sei. Carl Schmitt I, s. 13 (agamben nackte leben s. 21 anm) Souverän ist nach seiner Definition derjenige, der über den Ausnahmezustand entscheidet.

Souverän ist, wer töten kann, ohne einen Mord zu begehen. Das Gegenstück ist ein Mensch, den man töten kann, ohne einen Mord zu begehen. „An den beiden äußersten Grenzen der Ordnung stellen der Souverän und der homo sacer zwei symmetrische Figuren dar, die dieselbe Struktur haben und korreliert sind: Souverän ist derjenige, dem gegenüber alle Menschen potenziell homines sacri sind, und homo sacer ist derjenige, dem gegenüber alle Menschen als Souveräne handeln.“ (Agamben homo sacer S. 123ff).

Der homo sacer läßt alle anderen souverän werden. Während selbst noch der Verbrecher Ansprüche auf rechtliche Garantien und Verfahrensformen geltend machen kann, war dieser „heilige Mensch“ vollkommen schutzlos. Aus der Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen stand er jenseits des menschlichen wie des göttlichen Rechts und konnte nicht rechtlich verfolgt noch religiös geopfert werden. Weder ganz lebendig noch als vollständig tot anerkannt, bildete der homo sacer eine Art „lebender Toter“, dem noch das Recht verwehrt war, wie ein Mensch zu sterben. Von dieser Besonderheit spricht übrigens die Bibel in Bezug auf Jesus, was jedoch durch die Luther-Übersetzung verloren gegangen ist.

Der homo sacer ist einer, der vogelfrei ist, weil er heilig ist, der aufgrund einer Anschuldigung oder eines Opfer-Vertrages den Göttern gehört. Die als homines sacri Geweihten führen äußerlich ein normales Leben, bewegen sich aber in Wahrheit permanent auf der Schwelle zwischen Leben und Tod. Indem sie existieren, sind die Verhältnisse zwischen der Welt der Lebenden und jener der Toten gestört. Es gilt darum, mit ihrem Opfertod wieder korrekte Verhältnisse herzustellen. Die Figur des homo sacer bezeichnet die Verbindung von Gewalt und Recht in ihrer Ununterscheidbarkeit. Auch im Kriminalroman muß es den geben, der im Sinne des homo sacer dafür geopfert wird, die Ordnung wiederherzustellen. Daß auch die Jesus-Geschichte ein Kriminalroman ist, diesen Gedanken hat Dostojewski mit seinem Raskolnikoff (der Losgelöste) angedeutet.

Agamben behauptet, die Situation des homo sacer sei nicht auf das antike Rom, auch nicht auf Diktaturen beschränkt, sondern auch eine Möglichkeit moderner Demokratien. Im Gegensatz zu dem, was wir uns an politischem Raum in Begriffen der Bürgerrechte, des freien Willens und des Gesellschaftsvertrages vorzustellen gewohnt sind, können auch wir in eine solche Ausnahmesituation geraten und besitzen auch wir dann als politische Wesen in dieser Ausnahmesituation nur das nackte Leben. Da ist es nicht so, daß wir dem Staat das Recht übertragen, über uns Recht zu sprechen, sondern wir überlassen es ihm, nach Gutdünken zu verfahren. Der Naturzustand bei Hobbes ist nicht ein vorrechtlicher Zustand, sondern die Konstitutions-Bedingung des Staates, der darum souverän ist. Der derart verfaßte Staat wird von Wolfsmenschen und Vogelfreien bewohnt. Indem dieser die Individuen schützt, macht er sie zu Wolfsmenschen und Vogelfreien. Sie symbolisieren die Zwischenexistenz zwischen Tier und Mensch und die enge Bindung an den Souverän, in einer “ausschließenden Einschließung”. Der Ausschluß aus der Gemeinschaft ist verbunden mit der Abhängigkeit von der Gnade des Souveräns.

Agamben legt nahe, das Nazi-Projekt der Ausrottung der Juden als ein Beispiel für das Schicksal des homo sacer zu begreifen. Der Jude war von der bürgerlichen Ordnung abgeschnitten und lebte doch in ihr weiter. Diese Normalität mußte eine vorläufige sein. In den Konzentrationslagern waren die homini sacri reduziert auf das nackte Leben und verdammt, zu dem zu werden, was man Muselmann nannte, ein wandelnder Toter, ein Lebewesen, in dem alle animalischen und menschlichen Instinkte abgetötet sind und das doch lebt. Der Jude unter dem Nazi-Regime war der privilegierte negative Referent der neuen biopolitischen Souveränität als ein Leben, das getötet werden konnte aber nicht geopfert. Die Massenvernichtung sei kein Opfer, sondern lediglich straffreies Töten. Die Ausrottung des Juden ist die Verwirklichung seiner „Kapazität getötet werden zu können.“ (Agamben, Homo Sacer, 114.)”

Agambens Rede vom Lager bezieht sich aber nicht ausschließlich auf vergangene Greuel, sondern auch auf gegenwärtige „Orte des Ausnahmezustands“, in denen sich Recht und Fakt, Regel und Ausnahme ununterscheidbar überlagern: Räume, in denen nicht Rechtssubjekte, sondern bloßes Leben anzutreffen ist und der Ausnahmezustand auf Dauer gestellt wird. Als Bürger seien wir Agamben zufolge sogar “heute einer nie dagewesenen Gewalt ausgesetzt, die doch gerade in den banalsten und profansten Formen auftritt”. Während wir glauben, den homo sacer abgeschafft zu haben, übersehen wir, daß wir inzwischen alle zu homines sacri geworden sind, deren Negation nichts weiter ist, als der Vollzug unserer Negierbarkeit. Vergesellschaftet sind wir nicht als Subjekte, wie Habermas nicht müde wird, uns glauben zu machen, sondern als Körper, als “nacktes Leben”. Wir sind zwar sowohl natürliche als auch politische Körper. Als politische sind wir aber nicht Mitglieder einer Gemeinschaft, die durch in kritischer Öffentlichkeit ausgetragene Diskurse konstitutiert ist, sondern der aus Atomen zusammengesetzte Menschenschwarm, den wir im Frontispiz zu Hobbes’ Leviathan sehen. Das Gemeinwesen in seiner normativen Struktur beruht nicht auf dem Zusammenschluß autonomer Individuen, die sich der Sprache als Mittel der Verständigung und gegenseitigen Anerkennung bedienen, sondern als politische Körper sind wir lediglich das lebende Pfand unserer Unterwerfung unter eine willkürliche Macht über Leben und Tod, so etwas wie singende Larven oder tanzende Puppen, lebende Tote.

 

Sonntag, 2. Januar 2011

 
 
Erstellt auf einem Mac

Weiter >

< Zurück