Schelm
Wir erleben, auch wenn wir das nicht laut sagen dürfen, unsere Gegenwart angesichts der Finanzspekulation und der sie deckenden politischen Verhältnisse sowie der Selbstbedienungsmentalität der Manager als eine verrottete und dringend erneuerungsbedürftige Zeit. Wie einst der Schelmenroman zeigen heute die Tageszeitungen ihren Lesern die Kehrseite der Gesellschaft. Der offen zutageliegenden und offiziell geltenden Hierarchie stellt sich eine andere, geheime gegenüber. In dieser Gegenüberstellung zeigt sich, wer tatsächlich die Macht innehat, und von wem und nach welchen Gesetzen die Gesellschaft in Wahrheit regiert wird. In der Welt, in die die Zeitung den Leser entführt, ohne dies zuzugeben, hat alles einen anderen Sinn. Eine bestimmte Person müßte eigentlich einer anderen gehorchen. Nun sieht man bei genauerem Hinsehen, daß es sich genau anders herum verhält. Nicht der Wirtschaftsboss fügt sich politischen Vorgaben, sondern der Politiker hechelt dem Maffioso hinterher. Die Macht ist nicht mehr an Licht und Transparenz gebunden, sondern an Dunkelheit und Geheimnis. Während die Politiker und die Intellektuellen wie einst die Fürsten und der Adel paradieren und die offiziell gewählten Volksvertreter repräsentieren, herrschen Unbekannte im Dunkeln, von denen angeblich niemand weiß und deren Einfluß und Geldmittel angeblich nicht existieren. Diese Unbekannten sind in der Lage, im Verborgenen die Fäden zu ziehen und auf wunderbare Weise Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die man für unüberwindbar hielt. Sie verwandeln alles in eine Frage des Geldes, das nur sie selbst im unerschöpflichen Übermaß bsitzen. Der Adel, dem man entstammen will, hat selbst längst begonnen, jene andere, umgekehrte Welt zu berühren und ihre Sprache zu sprechen. Der Fürst oder der Kanzler und seine Minister sind gleichzeitig Sklaven von Ganoven, wenn sie nicht selber die Ganoven sind. In der Genalogie der Maffia im „Gattopardo“ von Lampedusa, in den Gerüchten um Adreotti und die Loge P2, in der fiesen Figur von Berlusconi, in den Bänkern der Wallstreet und Frankfurts, stets geht es um dasselbe Thema.
Man kann von hier aus wie damals angesichts des Schelmenromans in zwei Richtungen denken. Einmal kann man sich fragen: „Ist die in Lumpen gehüllte Gestalt, der ich begegne, der ich normalerweise keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt hätte, ist sie nicht vielleicht in Wirklichkeit der Führer einer Armee, besitzt sie nicht vielleicht in Höhlen verborgene Schätze, ist sie nicht vielleicht der Heldentaten fähig, die die Adligen nicht mehr zu vollbringen vermögen, kann sie vielleicht bei ihren Waffengefährten die hingebungsfähige Treue erwecken, die man sonst nicht mehr kennt? Sollte von nun an die Welt des Dunklen, der Lüge, weniger verloren sein als die Welt des hellen Tags? Wäre dort die Zufluchtstätte der Wahrheit, der letzte Ort, wo die guten Eigenschaften eines Menschen glänzen könnten?“ Oder muß man sich darauf einstellen, daß die Welt immer weiter von der Maffia ausgehöhlt und dieser Hohlraum unerkannt von ihr eingenommen wird, weil man sie für die Wirtschaft hält, so daß es vor der globalen Kriminalität mit den ungeheuren Geldmitteln aus Drogen-, Frauen-, Waffen- und Organhandel als der universal gewordenen Hölle kein Entkommen mehr gibt?
Sonntag, 2. Januar 2011