Tartuffe
Molieres Tartuffe ist ein Heuchler, und die Komödie stellt seine Heuchelei an den Pranger. Alle wissen es, nur der reiche Herr Orgon nicht. Das Publikum der Komödie macht sich über dessen Naivität lustig. Er ist taub für alles, was man ihm über die Scheinheiligkeit des vorgeblich frommen Mannes erzählt, den er bei sich aufgenommen hat. Er will nicht glauben, daß der es nur auf seine Frau und sein Geld abgesehen hat, weil er sich geschmeichelt fühlt und seinen narzißtischen Gewinn verteidigt. Der Zuschauer fragt sich kopfschütteld: wie kann man nur so blöd sein!
In den jüngsten Inszenierungen dieses Stückes glaubte man die latente Homosexualität des Herrn Orgon entdecken zu müssen, hat man die Ehekrise und die Zerrüttetheit der menschlichen Beziehungen im Hause Orgon in den Fokus gerückt und Tartuffe als Katalysator eines längst fälligen Bewußtwerdungsprozesses in die scheinbar heile bürgerliche Familie geschickt. Man hat Herrn Orgons merkwürdiges Verhalten auf alle möglichen Weisen verständlich zu machen versucht, anstatt es für unerklärlich zu erklären, anstatt sich einzugestehen, daß alle verfügbaren Erklärungen nicht ausreichen, daß man mit dem, was man parat hat, nicht weit kommt, daß man besser daran täte, es als ein Rätsel stehen zu lassen, einzusehen, daß man der Lösung nicht näher kommt, als man es im Rätsel ist.
Auf den Galapagosinseln wird den dort heimischen Tieren ihre Arglosigkeit Eindringlingen gegenüber regelmäßig zum Verhängnis. Sie fallen Eindringlingen wehrlos zum Opfer, nachdem sie jahrtausendelang keine Feinde fürchten mußten. Aufgrund mangelnder Gewöhnung an den Tatbestand, daß es Feinde gibt, sind Tiere wie die Meerechse etwa für streunende Hunde leichte Beute. Die Zoologie rätselt über das Phänomen, daß Tiere wie die Meerechse auch unter dem Eindruck wiederholter mißlicher Erfahrungen arglos bleiben und nicht fähig scheinen zu lernen. Wenn sie gescheucht wurden, stieg der Cortisongehalt ihres Blutes kaum merklich an. Erst wenn sie eingefangen und in einen Sack gesperrt wurden, zeigten sie sich auch später noch deutlich schreckhafter. Sie haben die Fähigkeit, sich geübt zur Wehr zu setzen oder rechtzeitig das Weite zu suchen, nie erlernt. Sie haben das Paradies nie verlassen müssen. Und wenn diese Fähigkeit etwas angeborenes sein sollte, dann ist sie ihnen mit der Zeit verloren gegangen. Dann haben sie sich die Vertreibung aus dem Paradies wieder abgewöhnt.
Die praktische Frage für die Zoologen ist, wie sich Individuen mit herabgesetzter Fluchtbereitschaft und deutlich eingeschränkter Lern- und Anpassungsfähigkeit schützen lassen. Sicherheit für die Bewohner der Inseln bietet allein, jeden Eindringling von den Inseln fernzuhalten. Wie würde die Frage übertragen auf den Menschen lauten? Zu mißtrauen ist eine Fähigkeit, die uns abhanden kommen kann. Es könnte sich um dabei eine Krankheit handeln. Welcher Art wäre diese Krankheit, wie wäre sie zu kurieren und wie ließe sich ihr Ausbruch verhindern. Was wäre die beste Prophylaxe? Und was wäre, wenn sie einmal ausgebrochen ist, die adäquate Therapie?
Wahrscheinlich hilft auch hier nur, den Menschen konsequent vor Eindringlingen zu schützen. Wie aber soll man Eindringliche erkennen, und wäre die Isolierung für ein soziales Wesen nicht ein zu hoher Preis für die Sicherheit davor, Dummheiten zu machen und manipuliert zu werden? Also gibt es keinen wirksamen Schutz. Und wie ist es mit der Therapie? Vielleicht wird man nur durch schlechte Erfahrung klug. Vielleicht muß man es am eigenen Leib erfahren haben, gefressen zu werden, um davor geschützt zu sein, gefressen zu werden.
Aber um welche Krankheit handelt es sich überhaupt? Probeweise könnten wir es mit dem Capgras-Syndrom versuchen, obwohl hier auf den ersten Blick das umgekehrte Problem vorzuliegen scheint. Richard Powers Roman “Das Echo der Erinnerung" hat dieses Syndrom zum Thema. Er handelt von einem jungen Mann, Mark Schluter, der nach einem schweren Verkehrsunfall sehr langsam das Bewußtsein wiedererlangt. Seine Erinnerung bleibt unvollständig. Die Ereignisse der Unfallnacht kann er nicht rekonstruieren. Auch erkennt er seine Schwester Karin nicht wieder. Schlimmer noch, er glaubt, sie sei durch eine Doppelgängerin ersetzt worden. In seinem Gehirn hat sich etwas entzweit. Die Teile, die für die Gesichtserkennung und die Zuordnung des Gesichts zuständig sind, sind noch intakt und kommunizieren miteinander. Aber die Verbindung zu einer dritten Komponente, die zuständig ist für die gefühlsmäßige Wiedererkennung, ist durchtrennt worden. Es gibt den Cortex, der die Gesichtszüge erkennt, die Geometrie des Gesichts ermißt, und den Hippocampus, den Teil des Gehirns, der sich erinnert. Diese beiden Einheiten stehen noch miteinander in Kontakt, aber der emotionale Vermittler, der auch für Hoffnungen und Angst zuständig ist, redet nicht mehr mit den beiden anderen. Der Cortex, der jüngste Teil des Gehirns, hat sich losgelöst von jenem tieferen lymphatischen Teil des Gehirns, das wir noch immer mit anderen, niedrigeren Kreaturen teilen.
Der Capgras-Patient gibt zu Protokoll, diese Person sieht wie meine Schwester aus, sie spricht so und verhält sich wie meine Schwester, aber sie fühlt sich nicht so an wie meine Schwester. Die fehlende emotionale Wiedererkennung macht die logische, rationale und kognitive Wiedererkennung wertlos. Es liegt auf der Hand, daß der Intellekt ziemlich hilflos ist, wenn die Emotion fehlt. Unsere Vorstellung darüber, was in unserem Gehirn die Führung hat, erweist sich als eine Illusion. Der kognitive Teil unseres Gehirns, der in unserer Selbstwahrnehmung die Führung übernimmt, verdeckt nur die Tatsache, daß die Person nach wie vor den archaischen und niederen Regionen ihres Gehirns folgt. Das Gehirn bastelt sich selbst eine Geschichte zusammen, um die emotionalen Komponenten im Sinne der kognitiven Führung zu interpretieren.
In Powers Roman wird anhand eines Kranichtanzes nahegelegt, daß das, wovon der Cortex getrennt ist, unser Vogelgehirn sei, also der Teil, den wir noch mit den Vögeln teilen. Mit diesem Vogelhirn sind wir Element eines Schwarms, ohne dies zu wissen. Wir denken, wir seien allein und unverkennbare Einzelwesen, aber in Wahrheit sind wir Teil eines Verbands mit anderen Kreaturen. Wir erkennen sie nur nicht als unsere Verwandten und Schwarm-Mitglieder.
Während man nun annehmen sollte, daß dieses Handicap mit dem Effekt, in den engsten Vertrauten lauter Doppelgänger zu erblicken, den Betroffenen dazu bringt, allem und jedem zu mißtrauen, ist das Gegenteil der Fall. Das Interessante an dieser Erkrankung ist nicht etwa, daß es die kulturkritischen Zweifel an der Einheit des Ich und seiner Zuverlässigkeit bestätigt, sondern daß das betreffende Individuum verlernt zu mißtrauen. Durch eine so banale Sache wie einen Autounfall kann das, was wir für unser Gehirn halten, außer Kraft gesetzt werden und ein stammesgeschichtlich älterer Teil des Gehirns die Führung übernehmen. Diese Führung entbehrt nun der Wachsamkeit im Sinne des sogenannten gesunden Menschenverstandes und prägt dafür ein Übervertrauen aus, eine intransitive Liebe, an deren ausgestreckter Valenz andere nur anzudocken brauchen. Jetzt muß man nur noch den Vorbehalt der Krankheit aufgeben und einräumen, daß sich der Autounfall in der familiengeschichtlichen Ausstattung der Psyche ereignet hat, um sich in Herrn Orgon wiedererkennen zu können.
Sonntag, 2. Januar 2011