Ursprung
Religionen haben ein notorisches Interesse am Anfänglichen, das ist ihr größtes Laster. Sie leben von den aufgeladenen "Magnetfeldern rings um die Schöpfung". wovon die kosmologischen Mythen erzählen, das kreist um die Vorstellung von einem Bruch, von Plötzlichkeit, dem Anfang in der Zeit und dem Anfang der Zeit. Alle uns bekannten Darstellungen von Gottheiten und sämtliche Definitionen des Göttlichen sind geknüpft an Schöpfertum und ein "erstes Machen". Gott kann offensichtlich nicht anders als erschaffen, er ist "le Grand Commenceur". In der Aufklärung, an der Schwelle zur Neuzeit, hat man sich Gott als Architekten vorgestellt, und das ideale Selbstbild des Architekten der Moderne war am christlichen Schöpfergott orientiert. Die Denkfigur, die den Schöpfergott mit dem Architekten verknüpfte, bildet das historische Scharnier für die Wende Descartes von der Mimesis zu einer auf Technik und die eigene Produktion basierende Erkenntnistheorie hin.
Mit Descartes vergißt man bis heute, dessen zentralen Gedanken, daß der Mensch erkenne, weil er selbst der Schöpfer ist, und daß er nur das erkennen könne, was er selber hergestellt hat, in den Kontext des Alltagserlebens zu stellen, das nach wie vor mimetischer Natur ist. Die bis heute elaborierteste Fassung des Gesamtkomplexes findet sich in Giambattista Vicos Überlegungen, die er in seiner „Neuen Wissenschaft“ dargelegt hat. Das die Evolutionsbühne betretende Wesen Mensch – “noch ganz Staunen und Wildheit”, überwältigt von der "furchtbaren Religion der Blitze", erschafft sich zur Veranschaulichung der ihn überwältigenden Macht die Götter. Der Mensch erschafft sich die Götter in einem Gefühl des Überwältigtseins von etwas Größerem. Die Fähigkeit des Erschaffens wird ihm im Schaffensakt nicht bewußt. Im Gegenteil schließt er sich durch das Erschaffen von diesem Bewußtsein selber aus. Er hält sich im Schaffensakt für ein Geschöpf. Zum Schaffensakt gehört diese Selbstinversion. Sie ist wesentlicher Bestandteil des Schaffensaktes selbst.
Den selbst erschaffenen Göttern weiß der Mensch sich unterlegen, und von ihnen weiß er sich abhängig, sie gilt es anzuerkennen, und sie muß man versuchen zu besänftigen. Daß der Mensch, unter dem unmittelbaren Eindruck des Schreckens die Götter und das Abhängigkeitsgefühl selbst erschuf, das kann ihm erst auf dem Umweg über die kritisch-philosophische Selbstreflexion als Exemplar eines gattungsgeschichtlichen Subjekts wieder bewußt werden.
Zwar wähnen wir uns heute über den Glauben an Götter erhaben, doch der Mechanismus der Symbolisierung angesichts des Schreckens und des anschließenden Vergessens des Symbolisierungsaktes ist nach wie vor in unseren Denkprozessen wirksam, nicht nur für das Kleinkind sondern auch für den Erwachsenen, die so dem, was wir für Erkenntnis halten, diametral entgegengesetzt sind.
Nietzsche wußte, daß die Enormität des Menschen, sein Sprung zu Macht und Entfremdung, ganz an den Anfang gelegt werden muß. „Der Anfang ist das Unheimlichste und Gewaltigste“. Nietzsches Satz, alle guten Dinge seien einmal arge Dinge gewesen, Kultur habe mit dem Schrecklichsten begonnen, und Schellings Einsicht vom Furchtbaren am Anfang weisen in dieselbe Richtung, in die schon Vicos Sätze wiesen. Der Sprache können wir uns Nietzsche zufolge nur bedienen, weil ihre Münzen abgegriffen sind und das Symbol auf ihnen nicht mehr zu erkennen ist. Ohne dieses Vergessenhaben könnten wir uns nicht verständigen.
Um Vicos Analyse der Urszene in ihrer ganzen Reichweite zu erfassen, muß man sie von der Erklärung des Glaubens an Götter lösen. Heute muß jeder Mensch tagtäglich alles selbst herstellen und sogleich wieder vergessen, daß er es selbst gemacht hat, um es als natürlicher Hermeneutiker aus der Natur herauslesen zu können, aus Gründen notwendiger Entlastung vom unentwegten Schöpfungsgeschäft. Was uns von den Zeitgenossen Vicos unterscheidet, ist nicht, daß wir heute nicht mehr an Götter glauben müssen, sondern daß wir heute nicht mehr nur an Götter glauben, sondern alles zu Göttern geworden ist. Dabei irritiert, daß die Natur, das Substrat dieses hermeneutischen Grundbedürfnisses, aus der man die eigenen Setzungen als gegeben herauslesen möchte, sich selbst ihrem Gegenteil, der Technik verdankt, als zweite Natur, in der wir zunehmend in uns selbst leben.
Daß die sprachliche Vergegenwärtigung dieses permanenten alltäglichen ursprünglichen Kraftaktes des Schöpfens und Vergessens diesen merkwürdig verblassen läßt, mag seine Ursache darin haben, daß dergleichen nur im Nachhinein möglich ist, also wenn alles vorbei ist, wenn sich die Lage schon wieder beruhigt hat, wenn das Gewitter vorbeigezogen ist und sich die Wogen geglättet haben. Über den Ursprung läßt sich erst reden, wenn sich dieser als unmittelbare Erfahrung verloren hat. Erst wenn sich mit der Depotenzierung der mythischen Furcht durchs erwachende Subjekt dieser Ursprung und sein Wissen in der Kultur, die immer mehr Technik wird, verloren hat.
Sonntag, 2. Januar 2011