Wechselbalg
In der europäischen Folklore ist ein Wechselbalg Spross einer Fee, eines Trolls, einer Elfe oder einer anderen sagenhaften Kreatur, der heimlich zurückgelassen wurde, im Tausch gegen ein geraubtes Menschenkind. Die Motivation für diesen Tausch kommt aus dem Wunsch, einen menschlichen Sklaven oder Diener zu besitzen, die Liebe eines menschlichen Kindes, oder entspringt einfach der Bosheit. Manche glauben, daß Trolle ungetaufte Kinder holen, wodurch das Unglück, das den anderen zustößt, als eine gerechte Strafe für andere erscheint, gegen die man selbst sich durch integren Lebenswandel zu schützen wußte oder wüßte. Neben der christlichen Taufe kannte man auch abergläubische Vorkehrungen. So kleidete man die Sprößlinge in umgekehrte Mäntel oder gab ihnen häßliche Namen.
Da die meisten Fabelwesen in der schwedischen Folklore Angst vor Stahl haben, befestigten die Eltern einen stählernen Gegenstand, wie z.B. ein Messer auf der Wiege eines noch ungetauften Kindes. Wenn ein Kind trotz solcher Vorsichtsmaßnahmen geraubt und vertauscht wurde, glaubte man, daß die Eltern seine Rückgabe erzwingen könnten, indem sie den Wechselbalg grausam behandelten. So wird von verheerenden Kindes-Auspeitschungen berichtet. In einem Fall wurde einer Frau vorgeworfen, ihr Kind in einem Ofen verbrannt zu haben. (Klintberg, Bengt af; Svenska Folksägner (1939).
Die Realität hinter manchen dieser Legenden war oftmals die Geburt eines deformierten oder behinderten Kindes. Die Phantasie, es müsse von einem Troll vertauscht worden sein, half, das unfaßbare Unglück zu einem denkbaren zu machen und die narzißtische Kränkung zu lindern.
Manche Legenden widmen sich dem Problem, wie denn Trollkinder oder Wechselbälger zu erkennen seien. Daß es so schwierig ist, ihre Verstellungen und Tarnungen zu durchschauen, läge daran, daß sie erheblich klüger seien als Menschenkinder. So wurde aus dem Schicksal eine Prüfung. Wenn die Eltern fähig waren, ein Wechselbalg schon bald zu entdecken, mußten es seine Troll-Eltern zurücknehmen. In einem Märchen der Gebrüder Grimm wird berichtet, wie eine Frau, die den Verdacht hatte, ihr Kind sei vertauscht worden, den Wechselbalg überlistete. Sie begann, Bier in der Hülse einer Eichel zu brauen. Der Wechselbalg sagte: Jetzt bin ich schon so alt wie eine Eiche im Wald, aber noch nie habe ich jemanden Bier in der Hülse einer Eichel brauen gesehen. Dann verschwand er.
In einer schwedischen Sage (die Aufnahme fand in Selma Lagerlöfs 1915 erschienenen Buch “Troll och människor”), wächst das Troll-Kind auf einem Bauernhof auf, während das Menschenkind unter Trollen aufwächst. Jedermann rät der Frau, den Wechselbalg brutal zu schlagen, so daß die Trolle die Kinder aus Mitleid mit ihrem Kind noch einmal tauschen werden. Doch die Frau weigerte sich, das unschuldige wenn auch unangepaßte Troll-Kind grausam zu malträtieren und fuhr fort, es zu lieben, als wäre es ihr eigenes. Auch als ihr Ehemann versuchte, das junge Troll zu verbrennen, rettet es die Frau vor dem Feuer. Schließlich kann sie nicht verhindern, daß der Mann es mit auf einen Spaziergang in den Wald nimmt, um es umzubringen. Er bereut seinen Entschluß aber und beschließt, das Leben des Trollkindes zu verschonen. Er schickt es in den Wald, in der Hoffnung, es möge sich verlaufen. Plötzlich kehrt sein eigenes Kind zu ihm zurück und erzählt seinem Vater, daß seine Freundlichkeit den Zauber gebrochen und ihm das Leben gerettet habe.
Behinderte Kinder, insbesondere Autisten, wurden ihres fremdartigen und unerklärlichen Verhaltens wegen häufig als Wechselbälger stigmatisiert. Dieses Motiv wird auch von den Betroffenen selber adaptiert oder generiert. Es ist auch Teil der autistischen Kultur. Einige autistische Personen, die es geschafft haben, sich ins bürgerliche Leben zu integrieren, haben dokumentiert, daß sie sich mit Changelings identifizierten. Die Adaption dieses Motivs erfolgt beinah zwangsläufig in dem Moment, wo sie sich dank bewußten Vorsatzes, sich normal zu verhalten und so hoffentlich auch normal zu werden, in der Lage sahen, ihr rätselhaftes und quälendes Fremdsein zu reflektieren. Sie konnten so ihrem Gefühl Ausdruck geben, in einer Welt zu leben, in die sie nicht hineingehörten, anders zu sein, nicht derselben Spezies anzugehören, wie die "normalen" Menschen um sie herum.
Da man nach altem Glauben davon ausging, daß ein der Wechselbalg nicht lacht, verhalf das Wechselbalg-Motiv dazu, einen Autisten zu erkennen. Die Eltern sollten versuchen, das Neugeborene zum Lachen zu bringen. Das verhexte Kind blieb finster und stumm. Otto deutet das Phänomen des Lächelns entsprechend nicht nur als Ausdrucksmittel, sondern als Ausdruck des Menschseins: „Die erste Äußerung, wodurch sich im Neugeborenen das geistige Selbst ankündigt, ist das Lächeln oder Lachen.” (Otto. Gesetz, Urbild und Mythos; ders. Das lächelnde Götterkind, in: Das Wort der Antike)
Das Lachen als Unterscheidungsmerkmal des gesunden Menschen vom Kranken ist auch wirksam in Gregory Batesons Double-bind-Theorie insofern, als der Schutz gegen die Infektion mit Schizophrenie wesentlich von der angeborenen Fähigkeit abhängt, Mitteilungsmodi wie Ernst und Ironie unterscheiden zu können. Da dem Kind in einer schizophrenogenen Familie diese Fähigkeit zu besitzen verboten wird, ihre Anwendung verunmöglicht wird, wird es schizophren.
Die verräterische Klugheit des Wechselbalgs, der als Erwachsener geboren wird, hat auch ein Echo in Winnicotts Beobachtung, daß Kinder mit narzißtischer Entwicklungsstörung zu hypertropher Intelligenz gezwungen seien.
Sonntag, 2. Januar 2011