Zirbeldrüse
Die Zirbeldrüse hat mehrere synonyme Bezeichnungen: die Epiphyse (Epiphysis cerebri), griechisch „der Auf-Wuchs“, „das aufsitzende Gewächs“ mit dem lateinischen Zusatz cerebri - des Gehirns, das Corpus pineale, der Pinienzapfenförmige Körper, die Glandula pinealis, die Piniendrüse, das Pinealorgan. Die Zirbeldrüse ist ein kleines Organ im Epithalamus, einem Teil des Zwischenhirns. an der Hinterwand des dritten Hirnventrikel oberhalb der Vierhügelplatte. Sie ist von einer bindegewebigen Kapsel umhüllt. In der endokrinen Drüse wird von den Pinealozyten das Hormon Melatonin produziert. Die Hormonproduktion findet überwiegend nachts statt. Über das Melatonin werden der Schlaf-Wach-Rhythmus und andere zeitabhängige Rhythmen des Körpers gesteuert. Bei Missfunktion bewirkt sie – außer einem gestörten Tagesrhythmus – entweder sexuelle Frühreife oder Verzögerung bzw. Hemmung der Geschlechtsentwicklung.
Für Descartes spielte dieses Organ eine wichtige Rolle zur Begründung seines Dualismus von Geist und Körper. Er unterschied den Geist (die Seele) oder die denkende Substanz und den Körper oder die ausgedehnte Substanz. Beide sind nur zufällig im Menschen miteinander verbunden; an sich haben sie nichts miteinander gemein, bedürfen sie einander nicht. Modifikationen der ersteren sind: Fühlen, Wollen, Urteilen, Begehren; der zweiten: Lage, Gestalt, Bewegung. Der Geist ist immateriell, absolut einheitlich, unteilbar, der Körper materiell und nur in gewisser Weise unteilbar. Eine gewisse Vermittlerrolle zwischen beiden Substanzen spielen die „Lebensgeister“ (esprits animaux), das sind die feinsten und beweglichsten unter den Blutteilchen, die in das Gehirn eindringen und dann von dort aus Nerven und Muskeln des übrigen Körpers in Bewegung setzen.
Tiere haben kein Bewußtsein und keine Seele. Sie sind bloße Maschinen, ihre Empfindungen bloße Reflexbewegungen. Wenn man einen Esel schlage und dieser brülle, dann sei dies im Prinzip dasselbe, als ob man bei einer Orgel eine Taste drücke und diese dann einen Ton von sich gebe. Der menschliche Körper sei eigentlich auch ein Tier. Im Menschen aber seien Ausdehnung und Denken, Körper und Geist verbunden. Was den menschlichen vom tierischen Körper unterscheidet, ist nach Descartes sein Bewohntsein von einer Seele, die unteilbar, weil nicht ausgedehnt, ist. Nach dieser Auffassung kann die Seele auch ohne den Körper existieren, weshalb sie auch nach dem Tode nicht mit diesem untergeht. Diese grundsätzliche Trennung von denkender und ausgedehnter Substanz verhindert nicht ihre geheimnisvolle und innige Vereinigung, deren Bestehen schon die bloße Erfahrung bestätigt: unsere Seele wird durch das Temperament, die Mischung der Säfte im Körper und durch die Beschaffenheit und Anordnung der Körperteile stark beeinflußt.
Eine besondere Vermittlerrolle spielt als einzig nicht paarig vorhandener Teil des Gehirns in diesem Konzept die Zirbeldrüse. Zwar ist die Seele mit dem ganzen Körper verbunden, aber in diesem Organ übt sie ihre Funktionen präziser als in den anderen Teilen des Körpers aus. In der Zirbeldrüse finden die Wechselwirkungen von Körper und Seele in konzentrierter Form statt. In einer trivialisierten und nicht verifizierbaren durch Lesart von Descartes wird sie darum als Sitz der Seele bezeichnet. Immerhin läßt sich in diesem Organ die Art und Weise der Wechselwirkung, des Austauschs (commercium) zwischen Körper und Seele beobachten. Die Lebensgeister stoßen die Zirbeldrüse an und reizen so die Seele zur Empfindung, die diesen Stoß ihrerseits erwidert. Besonders in diesem Organ vermag die Kraft der Seele, den Körper - wenn auch nur indirekt - zu bewegen, und das Vermögen des Körpers, durch Verursachung von Sinnesempfindungen und Passionen auf sie einzuwirken. Die aus sehr weicher Materie gebildete Zirbeldrüse, die nicht mit der Substanz des Gehirns vereinigt, sondern an kleinen Arterien aufgehängt ist, bildet die Apparatur, die in Descartes' System diesen Austausch ermöglichen soll.
Wie ein nur an wenigen Fäden befestigter Körper, den die Kraft des einem Kamin entsteigenden Rauchs trägt, je nach der Richtung der einzelnen Rauchschwaden hin und her treibt: so drängen die Geisteskorpuskeln, die der Drüse Auftrieb geben, sie einmal in diese und einmal in jene Richtung.
Die Wirkung des Körpers auf die Seele findet im Gehirn statt, in dem der Seele aus Animalgeistern hergestellte Bilder vorgehalten werden. Umgekehrt beeinflußt die Seele den Körper durch Neigung der Drüse auf eine bestimmte motorische Nervenendung, wodurch aus mechanischen Gründen einige der im Gehirnventrikel befindlichen Geister durch eine Röhrenleitung in den betreffenden Muskel geleitet werden. So wird die Zirbeldrüse darüber hinaus auch Verbindung- und Koordinationsstelle von Sensorik und Motorik.
Für Descartes funktioniert die visuelle Wahrnehmung des Menschen über die Augen so, daß wie bei einer Camera Obscura im Auge Lichtstrahlen eintreffen, die ein Abbild im Auge erzeugen. Nach Descartes nehmen wir das Licht mit unseren Sinnen wahr, weil sich eine bestimmte Gruppe von Korpuskeln bewegt. Folgerichtig ist auch das Rot, das wir wahrnehmen, nicht das Rot in den Dingen selbst, sondern Resultat einer bestimmten Bewegung bestimmt gestalteter Korpuskeln. I
n seiner Schrift „Dioptrique“ (in: Discours de la méthode, Leiden 1637) vergleicht Descartes das Sehen mit der Gegenstandswahrnehmung durch Blinde, die "gleichsam mit den Händen sehen", und fährt fort: "Wenn Sie annehmen, daß der Unterschied, den ein Blinder mit Hilfe seines Stockes zwischen Bäumen, Steinen, Wasser und anderen derartigen Gegenständen sieht, ihm nicht geringer erscheint als der, der zwischen roter, gelber, grüner und jeder anderen Farbe besteht, so ist dennoch die Unähnlichkeit zwischen den Körpern nichts anderes als die verschiedenen Arten, den Stock zu bewegen oder seinen Bewegungen Widerstand entgegenzusetzen." Später wurde der Gedanke von der prinzipiellen Gemeinsamkeit der Entstehung von fühlbaren und sichtbaren Abbildern von Diderot und besonders von Setschenow weiterentwickelt.
Das Abbild wird danach an die Zirbeldrüse übermittelt, die als Verbindung zwischen Körper und Geist fungiert. Im vorliegenden Beispiel wird der visuelle Reiz in einen Willensakt übersetzt, der von der Hand (Zeigefinger) ausgeführt wird. So wird streng genommen "der mechanistische physiologische Prozeß nur noch zu einem Mittel der Wahrnehmung". Daraus läßt sich letzten Endes folgern, daß die von einem Objekt kausal bestimmten Prozesse gar kein Bild erzeugen, "sondern nur noch ein Muster physiologischer Aktivität. Dieses Muster wird vom Geist nicht wahrgenommen, sondern ist lediglich ein Mittel, das ihn zu Vorstellungen anregt."
Erasistratos von Keos (305–250 v. Chr.), besser bekannt als Herostrat, und Herophilus von Chalkedon (344–280 v. Chr.) zwei Anatomen der Schule von Alexandria, wahrscheinlich die ersten Anatomen überhaupt, glaubten, daß die Zirbeldrüse ein Ventil wäre, das den Fluß unserer Erinnerungen kontrolliere. Claudius Galenus „Galen“ von Pergamon (130−200), der in Alexandria studiert hatte und dann in Rom praktizierte, war der Meinung, daß sie eine Art Ventil sei, das den Gedankenfluß regulieren würde. Hinduistische Mystiker brachten die Zirbeldrüse mit Intuition und Erkenntnis in Verbindung. In einigen Regionen des Orients galt sie als Kontaktorgan mit den Göttern. Wie vor ihm Galen hob Andreas Vesalius (1514–1564) die zapfenförmige Form der Zirbeldrüse hervor und beschrieb ihre Ähnlichkeit mit Pinienzapfen.
Durchaus denkbar, daß Collodis Pinocchio seinen Namen dieser Ähnlichkeit verdankt. Er wäre demnach als Personifizierung der Zirbeldrüse und der Tücken des Descarte’schen Dualismus anzusehen. Er tanzt Descartes und seinem „Ich-denke-also-bin-ich“ buchstäblich auf der Nase herum.
Montag, 3. Januar 2011